Handbuch interkulturelle Schulentwicklung
Die Auseinandersetzung mit Deutschland als Einwanderungsland hat längst Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs gehalten. Allein der Transfer in die schulische Praxis scheint noch ganz am Anfang zu stehen. Mit ihrem „Handbuch interkulturelle Schulentwicklung“ wollen die Herausgeber Praxis und Theorie miteinander verbinden. Lesen Sie dazu ein Interview mit dem Herausgeber Prof. Dr. Alfred Holzbrecher.
Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden?
Als Hochschullehrer war ich immer bemüht um eine praxisnahe Lehrerbildung, stellte jedoch fest, dass wissenschaftliche Texte wenig Wirkung auf die Verbesserung der pädagogischen Praxis haben – und dass Lehrpersonen kaum mehr theoretisch fundierte Bücher lesen. So entstand die grundsätzliche Frage, wie Lehrer_innen ihren Beruf lernen und wie sie sich in ihren vielfältigen Arbeitsfeldern an der Schule professionalisieren. Damit war eine Entscheidung für die „Akteursperspektive“ gefallen: Interkulturelle und diversitätsbezogene Bildung lebt durch die Aktion der Lehrpersonen im Unterricht und auf Schulebene, sie sind es, die wissenschaftliche Erkenntnisse, gesellschaftliche und schulpolitische Notwendigkeiten in pädagogische Praxis übersetzen. Belehrungen helfen da ebenso wenig wie Vorschriften von oben. Und so versuchen die über 40 Autor_innen des Handbuchs das Spannungsfeld zwischen interkultureller Theorie und Praxis auszuloten, indem sie ein breites Spektrum an Methoden und Zugängen zu einer Professionalisierung im Lehrberuf vorschlagen: Hintergrundinformationen, Forschungsbefunde und Materialien sind verbunden mit Arbeitsvorschlägen und Methoden für die Lehrer(fort)bildung.
Welche Personengruppen wünschen Sie sich als Leser_innen für Ihr Buch?
In erster Linie wollten wir Lehrer_innen ansprechen, die sich im Kollegium bzw. in Fortbildungsveranstaltungen für dieses immer wichtiger werdende Themenfeld qualifizieren wollen. Eine bedeutsame Zielgruppe sind auch die Studienseminare und natürlich auch die Lehrerbildungszentren an den Universitäten. Wünschenswert ist auch, dass die – bislang meist getrennt voneinander agierenden – Phasen der Lehrerbildung miteinander vernetzt werden und dass das Engagement für eine interkulturelle und diversitätsbewusste Schulentwicklung als Querschnittsaufgabe unseres Bildungssystems wahrgenommen wird. Das heißt, dass auch die entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um das persönliche Engagement abzusichern – konkret: Maßnahmen der Lehrer(fort)bildung müssen für diese Aufgaben quantitativ und qualitativ verstärkt werden (etwa seitens der Ministerien), damit das verbreitet noch vorhandene Engagement der Lehrer_innen erhalten bleibt und nicht in Resignation, Überforderungsgefühle und Ablehnung kippt.
Interkulturelles Lernen – den Begriff kennen wohl die meisten. Aber was verstehen Sie unter interkultureller Schulentwicklung?
Für mich ist entscheidend das „Inter“, das „Dazwischen“, der Zwischenraum im Dialog, im Austausch, im zwischenmenschlichen Kontakt – und das beinhaltet eine Sensibilität für Ambivalenzen, für Übergänge, Vermischungen, für Befremdliches wie auch Faszinierendes. Eine Schule ist heute eine Mischung aus Menschen unterschiedlicher Milieus, sozio-/kultureller Herkünfte, Leistungsfähigkeiten, Geschlechter…, und das zentrale Postulat der Inklusionspädagogik lautet, dass jede_r Lernende in seiner Subjekthaftigkeit wertgeschätzt, herausgefordert und unterstützt werden soll. Eine nicht einfache Aufgabe für eine Schule, die aus ihrer Geschichte heraus sich immer an einer für alle gültigen (Leistungs)Norm orientiert hat. Eine interkulturelle und diversitätsbewusste Schule stellt sich den Herausforderungen einer globalisierten, von Migration gekennzeichneten Gesellschaft. Sie bietet Wertorientierungen und Rahmenbedingungen und entwickelt konkrete pädagogische Maßnahmen für Schüler_innen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte, für Leistungsschwächere wie für -stärkere. Sie eröffnet Lern- und Entwicklungsräume in Kooperation mit außerschulischen Partnern (Internationale Jugendarbeit, Theater, Sozialarbeit…), stellt Aufgaben und Herausforderungen, damit die Lernenden Erfahrungen von Selbstwirksamkeit machen können, von (Ich)Stärke, die sie befähigt, mit den Ambivalenzen und Fremdheiten unsere Gesellschaft auf demokratische Weise umzugehen.
Könnte der Begriff „interkulturelle Schulentwicklung“ auch die Gefahr in sich bergen, dass Unterschiede zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft an einer Schule quasi „heraufbeschworen“ werden, indem man sie betont?
Eine diversitätsbewusste oder „differenzsensible“ Bildung beinhaltet gerade ein didaktisches Gespür dafür, ob, wann und in welcher Weise die unterschiedlichen Differenzlinien (Herkunft, Sprache, Geschlecht, Leistungsfähigkeit etc.) akzentuiert oder auch bewusst (!) negiert werden, um keine Zuschreibungen vorzunehmen. Eine generelle Ignoranz gegenüber den Differenzlinien dürfte ebenso pädagogisch kontraproduktiv sein wie eine Überbetonung oder Dramatisierung. Auch hier plädiere ich für eine professionelle Gestaltung des „Zwischen-Raums“ mit der Perspektive einer Förderung der Lern- und Entwicklungspotenziale der Schüler/innen.
Interkulturelle Bildung und internationaler Schüleraustausch – in welchem Verhältnis stehen für Sie diese beiden Begriffe?
Mit Blick auf den Schulentwicklungsprozess kommt dem Schüleraustausch eine sehr bedeutende Rolle zu, wenn er im Unterricht vor- und nachbereitet werden kann und außerschulische Akteure mit ihrer für Lehrer_innen oft neuen pädagogischen Praxis eine große Bereicherung für die Schule darstellen. Auch hier gilt: Der ZwischenRaum zwischen schulischer und außerschulischer Pädagogik kann für beide Seiten zu einer Win-win-Situation werden. Die eine Schule hat im internationalen Schüleraustausch gute Ansätze entwickelt, andere Schulen vielleicht in den Bereichen Elternarbeit, Sprachbildung / Deutsch als Zweitsprache, interkulturelles Theater oder bei der didaktischen Differenzierung: Unser Handbuch Interkulturelle Schulentwicklung möchte dazu anstiften, „irgendwo anzufangen“ (um einen Buchbeitrag zu zitieren),sich in kollegialer Kooperation die anderen Arbeitsfelder nach und nach zu erschließen und miteinander zu vernetzen.
Das Interview führte Meike Köhler, Referentin Schulischer Austausch, Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch