Erinnerungsarbeit multiperspektivisch
Seit 2014 führt das Deutsche Youth For Understanding Komitee e.V. (YFU) in Kooperation mit dem Hamburger Gymnasium Lerchenfeld eine jährliche Projektfahrt nach Auschwitz und Krakau durch, die für die Teilnehmenden eine seltene Chance bietet: die multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus. Das Projekt könnte Leuchtturmcharakter haben, wenn es eine Lösung für die finanziellen Hürden gäbe. Ein Beitrag von YFU.
Besuche von Gedenkstätten sind üblicherweise mit hohen pädagogischen Erwartungen verbunden: Jugendliche sollen vor Ort nicht nur Wissen erwerben, sondern tiefe und nachhaltige ethische Einsichten gewinnen. Studien haben in den letzten Jahren jedoch gezeigt, dass diese Erwartungen oft nicht erfüllt werden. Eine rationale Auseinandersetzung mit den Schrecken des Nationalsozialismus findet selten statt. Stattdessen führt die moralische Überfrachtung der Veranstaltung eher zu einer Einübung gesellschaftlich erwünschter Bekenntnisse. Gleichzeitig erscheinen an die Grenzen von Nationalstaaten gebundene Erinnerungs‑ und Gedenkangebote in sich globalisierenden Migrationsgesellschaften unzureichend. Da Gedenkstätten dennoch auch weiterhin einmalige Bildungschancen eröffnen, hat das Deutsche Youth For Understanding Komitee e.V. (YFU) über neue Formate nachgedacht, die Alternativen zu den bekannten Reisen im Klassenverband bieten, mit dem Ziel, ein zukunftsweisendes Format der Kooperation von Schule und außerschulischen Bildungsträgern zu entwickeln.
Multinationales Seminar statt Klassenreise
Der Grundgedanke besteht darin, das Muster einer üblichen Klassen- oder Kursreise und die damit verbundenen Verhaltensroutinen von Schüler*innen durch eine ungewohnte Zusammenstellung der Gruppe zu durchbrechen: Insgesamt 30 Jugendliche – fünfzehn Schüler*innen einer Partnerschule und fünfzehn Jugendliche aus verschiedenen Ländern, die mit YFU ein Austauschjahr in Deutschland verbringen – unternehmen eine gemeinsame Seminarreise nach Südpolen, begleitet durch eine Lehrkraft sowie zwei bis drei YFU-Mitarbeitende. Sie besuchen unterschiedliche Erinnerungsorte in Krakau sowie die Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz und nehmen an einem gemeinsamen Seminarprogramm teil.
Die Teilnahme der Austauschschüler*innen an der Reise und die damit verbundene Möglichkeit für die Schüler*innen, gleichaltrige Jugendliche aus vielen verschiedenen Ländern kennenzulernen, fördert die Offenheit, die Bereitschaft zur Auseinandersetzung, die Lernbereitschaft und das Engagement bei der Vorbereitung auf die Reise. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands und Polens ist intensiver und perspektivreicher, wenn sie gemeinsam in einer multinationalen Gruppe erfolgt.
Kulturelle Identität – Vorurteile – Generalisierungen – Tabus
Die an der Seminarreise Teilnehmenden leben in einer Welt, in welcher eine Positionierung zum Holocaust – wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung – ein Bestandteil der Identitätsbildung ist. Dabei geht es nicht darum, die Schüler*innen der Partnerschule als „deutsche“ und alle anderen als „ausländische“ Gruppe zu konstruieren. Vielmehr bietet die besondere Gruppenkonstellation einen Anlass, über die Homogenität und die Heterogenität von Identitäten nachzudenken. Ohne die Diskussionen zwischen den Jugendlichen vorwegzunehmen, lässt sich z. B. fragen, ob die Gruppe ‚normaler’ Gymnasiast*innen tatsächlich eine Normalität teilt und ob die heterogene Austauschschüler*innengruppe als Ganze eine andere Normalität hat – zu erwarten sind vielmehr völlig neue, Ländergrenzen überwindende Konstellationen.
Die Voraussetzungen, solche Gespräche zu initiieren, sind gut: Insbesondere die Austauschschüler*innen werden sich durch die unmittelbare Konfrontation mit einer fremden Lebensweise schon intensiv mit Fragen kultureller und nationaler Identität beschäftigt haben. Sie sind durch ihre Erfahrungen während des Austauschjahres sowie die vorbereitenden und begleitenden Seminare auch an eine theoretische Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Stereotypen und Tabus gewöhnt. Dadurch wird die Bereitschaft der Gruppe gefördert, sich offen auch mit schmerzhaften und tabuisierten Themen auseinanderzusetzen. Die Fragen „Was darf ich sagen?“, „Was darf ich fragen?“, „Was darf ich denken?“ werden ebenso offen angesprochen wie Vorurteile, Verallgemeinerungen und Stereotype. Dies wird durch die bunte Zusammensetzung der Gruppe und die unterschiedlichen Vorerfahrungen gefördert.
Holocaust – Trauma, Schuld und Verantwortung
Zentral ist eine Beschäftigung mit den Fragen, wer in der NS-Zeit die Verantwortung für die Verbrechen trug, welche Handlungsoptionen Tätern, Opfern, Zuschauern und Rettern jeweils offenstanden sowie ob und für wen sich daraus heute in welchen Zusammenhängen eine besondere Verantwortung ergibt.
Die Auseinandersetzung kann durch die besondere Gruppenkonstellation engagierter und multiperspektivischer als bei einer gewöhnlichen Klassenreise geführt werden. Sie erfolgt immer direkt zwischen den jugendlichen Teilnehmer*innen und nicht als moralisierende Belehrung durch die erwachsenen Begleiter*innen.
Finanzierungshürden
Mittlerweile haben 170 Jugendliche an diesem Projektformat teilgenommen. Aufgrund des großen Erfolgs beschloss YFU 2016, eine zweite Seminarreise im gleichen Format mit einer weiteren Partnerschule durchzuführen und wurde beim Max-Planck-Gymnasium Delmenhorst fündig.
Nach einer einmaligen finanziellen Förderung durch das Auswärtige Amt zeigte sich hier jedoch schnell, dass dieses Kooperationsprojekt beim Thema Fördermittel in kein gängiges Raster passt. Sämtliche für die finanzielle Förderung von Gedenkstättenfahrten zuständigen Stellen lehnten eine Förderung ab. Folgende Gründe wurden für die Ablehnung genannt:
- es handele sich nicht um eine schulische Veranstaltung, da ein außerschulischer Träger involviert ist;
- es handele sich nicht um eine außerschulische Veranstaltung, da eine Schule involviert ist;
- es handele sich nicht um eine aus KJP-Mitteln (Kinder- und Jugendplan des Bundes) förderungswürdige schulisch-außerschulische Kooperation, da auf Seiten des außerschulischen Trägers ausschließlich Jugendliche aus dem Ausland teilnehmen.
Für Schulen in Niedersachsen gibt es zudem keine Möglichkeit, Förderung für Gedenkstättenfahrten ins Ausland zu beantragen. Zwar mag die Finanzierung des Projektes rein durch die Teilnahmebeiträge im Falle eines Gymnasiums in einem wohlhabenden Stadtteil Hamburgs machbar sein. Das Kooperationsprojekt mit dem Delmenhorster Gymnasium jedoch steht und fällt mit einer Drittmittelfinanzierung, sodass auch die diesjährige Durchführung noch nicht gesichert ist.
Der Aufwand, der für die Akquise von (Teil-)Fördermitteln zu betreiben ist, steht kaum im Verhältnis zum Projektumfang. Und ohne einen erfahrenen außerschulischen Partner, der diese Aufgabe übernimmt und bereit ist, die entsprechenden Personalressourcen – auf eigene Kosten – zu investieren, ist dieser Aufwand für Lehrkräfte in den meisten Fällen nicht leistbar.
Hier scheint es noch Bedarf für die Entwicklung flexiblerer Kriterien für die Vergabe von finanzieller Förderung an Kooperationsprojekte abseits des Standards zu geben.