„Schulen mit internationalen Partnerschaften sollten ein höheres Stundenkontingent bekommen“
Christine Ahlhaus hat in den letzten 18 Jahren ganze 84.000 Kilometer für den Schulaustausch zurückgelegt und Temperaturen von -25 Grad erlebt. Als Koordinatorin des Schulaustauschs zwischen der Konrad-Adenauer-Hauptschule in Wipperfürth und der Schule Nr. 96 in Tscheljabinsk (Russland) arbeitet sie mit der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch zusammen, steht für die Hauptschulen ein und hat klare Forderungen an die Politik.
Vor 25 Jahren nahm die Schulpartnerschaft zwischen Wipperfürth und Tscheljabinsk ihre Anfänge, waren Sie damals schon mit dabei?
Ich selber bin seit 20 Jahren Lehrerin an der Konrad-Adenauer-Hauptschule und seit 18 Jahren in die Partnerschaftsarbeit involviert.
Begonnen hat die Partnerschaft vor 25 Jahren durch einen Aufruf nach Schulmaterialien für das Fach Deutsch, den die Schule Nr. 96 im Internet gestartet hat. Darauf hat sich unsere Schule gemeldet, Material geschickt und eine der Deutschlehrerinnen für ein 3-monatiges Praktikum eingeladen. Anschließend haben jedes Jahr Begegnungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen stattgefunden.
Mittlerweile bin ich 8-mal mit in Russland gewesen und habe 10-mal das Besuchsprogramm in Deutschland organisiert. Dabei arbeite ich seit 2007 mit der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch in Hamburg zusammen und freue mich über deren Unterstützung, Beratung und finanzielle Beteiligung.
Meine Familie war darüber hinaus mehrfach Gastgeber für russische Jugendliche und meine eigenen Kinder ebenfalls zu Gast in Tscheljabinsk. Bei meinem ersten Aufenthalt in Russland ergab sich direkt ein sehr guter Kontakt zu einer russischen Kollegin, daraus entstand im Laufe der Jahre eine echte Freundschaft. Zusammen organisieren wir seitdem nicht nur die gegenseitigen Begegnungen, sondern haben auch Teil an persönlichen Ereignissen und tauschen mittlerweile Neuigkeiten aus dem Leben unserer Enkelkinder aus.
Wo sehen Sie aktuell die Herausforderungen des internationalen Schüleraustauschs im Schulalltag und in der Bildungspolitik?
Im Schulalltag versuchen wir die Herausforderungen des Schulaustauschs intern zu regeln, scheitern aber oft daran, dass wir für die Arbeit nicht mehr Stundenreduzierung für die beteiligten Lehrkräfte anbieten können. Schulen mit internationalen Partnerschaften sollten dafür ein höheres Stundenkontingent zur Verfügung bekommen. Aber bei der schlechten Ausstattung der Hauptschulen mit Lehrkräften bleibt das wohl ein Wunschtraum …
In der gegenwärtigen politischen Lage ist es besonders wichtig, Beziehungen zwischen Russland und Deutschland zu stabilisieren. Uns erscheint es wichtig, dass die Jugendlichen erfahren, dass auch bei unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Einstellungen ein Austausch möglich ist und es hilfreich ist, unterschiedliche Lebens- und Gesellschaftsentwürfe kennenzulernen. So werden Jugendliche auf eine aktive Beteiligung an gesellschaftspolitischen Entscheidungen vorbereitet. Persönliche Beziehungen weiten den Blick und bestärken die Menschen darin, sich für ein friedliches und verantwortungsvolles Miteinander einzusetzen.
Wenn Bundesländer an internationalen Schulpartnerschaften interessiert sind, müssten sie diese Schulen ebenfalls unterstützen und das nicht vom Partnerschaftsland abhängig machen, wie es in NRW der Fall ist.
Das Land NRW fördert aktuell keinen Schüleraustausch mit Partnerschulen in Russland – welche Folgen hat das konkret für Ihre Schulpartnerschaft?
Zu Beginn wurden unsere Austauschbesuche durch den PAD bezuschusst. Für die Begegnung in Russland gab es feste Beträge als Zuschuss für die Flugkosten; wenn die russischen Gäste bei uns waren, gab es pro Tag einen festen Betrag pro Gast. Dieses Geld konnten wir für jegliche Art gemeinsamer Aktivitäten nutzen. Nach der Gründung der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch 2006 hat sich das Land NRW aus der Bezuschussung für deutsch-russische Schulpartnerschaften zurückgezogen. Stiftungsgelder sind aber immer nur projektbezogen einsetzbar. Die gemeinsame Arbeit an einem Projekt tut der Austauscharbeit mit Sicherheit sehr gut und macht auch viel Spaß, aber jeder Austausch lebt auch davon, dem Gast ein Stück des Gastlandes zu zeigen. Das passt leider nicht immer zu einem Projekt und ist für einige Gasteltern eine nur schwer zu finanzierende Angelegenheit. Da wünschen wir uns entweder Unterstützung seitens der Landesregierung oder einen Betrag der Stiftung, der projektunabhängig zur Verfügung stehen würde.
Wie viel Zeit investieren Sie in Vor- und Nachbereitung der Austauschfahrten?
In Stunden ist die Zeit kaum nachzuhalten. Es gibt regen Austausch per E-Mail, wenn es um die Projektplanung und -gestaltung geht. Begleitet wird dies natürlich mit eigenen Überlegungen und Gesprächen mit Schüler*innen, welches Projekt für sie von Interesse sein könnte. In den Freistunden gehe ich durch die Klassen und werbe für die Fahrt. Die eigentliche Antragsstellung ist überschaubar. Zeitaufwändig ist die organisatorische Vorbereitung: Flugbuchungen, Formalitäten für die Visabeantragung, Kontrolle der Einzahlungen, Nachfragen stellen und Nachfragen beantworten – da kommt schon einiges zusammen.
Da ich zur Erweiterten Schulleitung gehöre, zähle ich diese Stunden mit für die Stundenbefreiung, die mir als Erweiterte Schulleitung zustehen. Das sind in diesen Phasen zwar mehr als ich eigentlich habe, ich versuche sie dann an anderer Stelle mal wieder abzufeiern. Eine Stelle als Erweiterte Schulleitung wird es nach meinem Ausscheiden aus dem Schuldienst aber nicht mehr geben, so dass spätestens dann von der Schulleitung eine neue Regelung für diese Arbeit, sollte sie weiter von unserer Schule geleistet werden sollen, gefunden werden muss.
In der Antragsstellung und den Abrechnungsmodalitäten hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten bestimmt auch einiges verändert?
Wenn man sich in die Antragstellung eingearbeitet hat, ist der Zeitaufwand zwar immer noch beträchtlich, aber überschaubar. Ärgerlich ist nur, wenn sich dann immer wieder die Antragsformalitäten ändern! Leider weigern sich viele Kolleg*innen, diese zusätzliche Mehrarbeit ohne Ausgleich zu tätigen. Da wir die Kosten für unsere Schüler*innen niedrig halten wollen, übernehmen bis jetzt die begleitenden Lehrkräfte auch die vollen Reisekosten, was nicht von allen Kolleg*innen akzeptiert wird.
Ein zusätzliches Problem bei der Antragsstellung ist neuerdings, dass die Entscheidung über eine Bewilligung und über die Höhe der Bewilligung erst kurz vor unserer Reise bekanntgegeben wird und der Förderbetrag erst nach unserer Reise ausgezahlt wird. (Anm. d. Red.: Die Bewilligungen der Stiftung werden für alle Antragsteller Anfang Dezember bekanntgegeben. Die Auszahlung der Förderungen kann, technisch bedingt, erst ab Mitte Januar erfolgen.) Das erschwert die Kalkulation und Planung enorm. Natürlich könnten wir den Zeitpunkt unserer Reisen nach Russland verschieben, um diesem Problem zu entgehen, aber seit 25 Jahren fliegen wir immer im Anschluss an die Weihnachtsferien nach Tscheljabinsk – zum einen, weil das eine für alle Schulen prüfungsfreie Zeit ist und zum anderen, weil es einfach ein einmaliges Erlebnis ist, bei minus 15 bis minus 25 Grad über zugefrorene Flüsse zu laufen, Eisstädtchen zu besuchen, einfach sibirischen Winter von seiner schönsten Seite kennenzulernen.
Was braucht Schule in Deutschland, um Austausch zu etablieren? Was würden Sie jüngeren Lehrkräften empfehlen?
Einfach mal mitfahren, um in einen solchen Austausch hineinschnuppern zu können. Wer einmal mitgefahren ist, ist in der Regel infiziert …
Was würde Sie Schulleitungen empfehlen, damit Lehrkräfte Bildungskooperationen eingehen, damit es ein tagtäglicher Umgang mit Internationalem wird?
Partnerschulen müssen im Schulalltag präsent sein. Etwa durch eine Bilderschau und Mitbringsel im Foyer, Interviews während Schulveranstaltungen und Berichte auf der Website. Während des Austausches könnten Besuche der Teilnehmenden in allen Klassen stattfinden. Denn im Gespräch mit ehemaligen Austauschschülerinnen und -schülern werden Jugendliche oft von deren Begeisterung angesteckt.
Die Kooperationen sollten zudem im Schulprogramm verankert werden, die Freistellung von Schüler*innen und Lehrer*innen während der Projektarbeit gewährt sein. Zudem müsste ein Ausgleich für zusätzlich geleistete Arbeit stattfinden.
Sie arbeiten an einer Hauptschule – welche spezifischen Herausforderungen bringt das beim Schulaustausch mit sich?
Gerade für Hauptschüler*innen finde ich den Austausch wichtig, da sie sich selber solchen Herausforderungen gar nicht stellen würden. Es tut ihnen unwahrscheinlich gut zu erfahren, dass sie in einem fremden Land und in einer fremden Familie sich zurechtfinden, von ihren eigenen Erfahrungen, ihrem Land, ihrer Stadt und ihrer Schule berichten können. Bei der Projektarbeit werden ihre Fähigkeiten gebraucht, sie können sich mit ihren besonderen Stärken einbringen.
Schüler*innen der Hauptschule kommen nicht selten aus eher bildungsfernen Elternhäusern. Oft scheitert die Teilnahme trotz Interesse des Kindes am Elternhaus, das dem Kind eine solche Herausforderung nicht zutraut, den Austausch nicht finanzieren kann oder Angst davor hat, im Folgejahr selbst einen Gast aus Russland aufzunehmen. Hilfreich wäre weitere finanzielle Unterstützung, mehr Zeit für Werbung seitens der Schule in den Elternhäusern, vielleicht auch Maßnahmen in Deutschland, die zumindest zeitweise in Jugendherbergen o. ä. stattfinden könnten – was finanziell natürlich wieder teurer wird …
Wenn es für die Schülerinnen und Schüler schwierig ist, eine Austauschteilnahme zu finanzieren – dürfen nun nur jene mit, die genügend finanzielle Ressourcen haben bzw. denen ein Austausch dieses Geld wert ist, die ihre Prioritäten darauf legen?
Für die Teilnehmenden mit sehr geringen finanziellen Eigenmitteln übernimmt oft die Arbeitsagentur die Kosten. Das größere Problem findet sich bei den Familien, denen diese Förderung nicht zusteht, die aber diese im Vergleich hohen Kosten für eine schulische Maßnahme nicht aufbringen können. In der Regel muss man mit höheren Kosten als bei einer „normalen“ Klassenfahrt rechnen – mindestens mit 500 bis 600 Euro. Es sollte auch keine Konkurrenz zur Klassenfahrt werden, die für viele Eltern mittlerweile auch schon finanziell eine Herausforderung darstellt. Die Flugkosten bis Sibirien überschreiten Weihnachts- oder Geburtstagswünsche, auch wenn ich dies den Beteiligten immer wieder vorschlage und es selber bei meinen eigenen Kindern so gehandhabt habe.
Man könnte nun sagen, dass sich unsere Schule eine Partnerschule näher an Deutschland gelegen suchen solle, damit die Kosten geringer würden. Eine Schulpartnerschaft, die seit 25 Jahren erfolgreich läuft, lässt man aber nicht einfach fallen und sollte meiner Meinung nach nicht des Geldes wegen aufgegeben werden. Außerdem fände ich es für die Partnerländer eine Zumutung, Austauschschulen nur nach Entfernungen auszusuchen. Manchmal passen eben Schulen einfach gut zusammen, auch wenn sie mehr als 4000 km Distanz aufweisen.
Wie steht es um die Motivation der Schüler*innen in den beiden Ländern?
Die Motivation der Jugendlichen ist nach wie vor hoch, auch an der Hauptschule. Allerdings sinken – wie überall in NRW – die Schülerzahlen an dieser Schulform und entsprechend die Teilnehmerzahlen am Austausch. Deshalb gestalten wir den Austausch seit einigen Jahren gemeinsam mit dem örtlichen St. Angela-Gymnasium. Bisher lag die Organisation allerdings allein in unseren Händen, was sich hoffentlich mit der Beteiligung einiger jüngerer Kolleg*innen des Gymnasiums ändern wird.
Motivierend für deutsche Schüler*innen ist die Erfahrung, in ein Land zu reisen, das normalerweise nicht Urlaubsziel ist. Trotz Öffnung vieler Grenzen ist für Privatreisende ein Besuch nicht einfach zu organisieren. Außerdem haben sich über die vielen Jahre auch anhaltende Freundschaften entwickelt. Davon wird erzählt und so passiert Werbung in unseren Schulen.
Für die russischen Teilnehmer*innen hat sich die Motivation meiner Meinung nach verändert. Zu Anfang kamen viele Schüler*innen zu uns, die vorher wenig oder keine Gelegenheit hatten nach Deutschland zu reisen und hier die erlernten Deutschkenntnisse anzuwenden, und die finanziell dafür auch nicht die Möglichkeit hatten. Heute sind es viele Schüler*innen, die von zu Hause aus mittlerweile viel im Ausland unterwegs sind und hier eher Einkaufsmöglichkeiten nutzen und attraktive Orte besichtigen möchten. Natürlich sind sie auch an den Kontakten interessiert, die sie hier knüpfen und erfreulicherweise halten viele dieser Kontakte auch über die Zeit der eigentlichen Begegnung an.
Auch bei den Lehrkräften hat sich die Motivation verändert. Standen früher immer auch Austausche über pädagogische Erfahrungen oder Besonderheiten auf dem Programm, sind es heute – neben der Projektarbeit – vermehrt touristische Aktionen. Wie gesagt gehört aber auch das zum Kennenlernen des Gastlandes und sollte durchaus in einem passenden Rahmen dazu gehören.
Die Schule Nr. 96 in Tscheljabinsk ist eine PASCH-Schule – inwiefern beeinflusst das Ihre Schulpartnerschaft?
Organisatorisch oder finanziell hat es keine Auswirkung auf unsere Schulpartnerschaft. Relevant ist es für die russischen Schüler*innen, da sie mit unserem Austausch eine wichtige Möglichkeit haben, ihre Deutschkenntnisse im deutschsprachigen Land zu testen. Dagegen hat es für die deutschen Schüler*innen keine Bedeutung, da an unserer Schule kein Russisch gelehrt wird. Allerdings haben wir viele Schüler*innen, deren Familien aus Russland stammen und die während des Austausches die Gelegenheit nutzen, ihre noch vorhandenen Russischkenntnisse aufzufrischen. Das findet allerdings wenig Gegenliebe bei den russischen Lehrkräften, da sie befürchten, dass die russischen Schüler*innen dann nicht so viel Deutsch sprechen wie eigentlich geplant.
Die Schule Nr. 96 arbeitet eng mit dem Goethe-Institut zusammen und fragt deutsche Gastgeber*innen, ob nach dem ersten Kennenlernen während des Schüleraustauschs die russischen Gäste anschließend für 3 Monate kommen könnten, um dann eine Sprachprüfung für Deutsch beim Goethe-Institut ablegen zu können. Damit haben wir unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Bei vielen Anschlussbesuchen haben die russischen Schüler*innen sehr intensiv das deutsche Bildungsangebot und die Möglichkeit der Ablegung der Sprachprüfung genutzt. Leider hat es aber auch immer Besuche gegeben, in denen die russischen Schüler*innen eher eine Gelegenheit für einen erweiterten Urlaub gesucht haben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ein 3-monatiger Gastschüleraufenthalt eine ziemlich hohe Belastung ist und kann verstehen, wenn unsere Gasteltern da nur eher zögerlich drauf reagieren.