Blindenschulen im Austausch
Eine Schulpartnerschaft mit über dreißigjähriger Tradition ist selten genug. Doch jene zwischen der Carl-Strehl-Schule der blista für junge Menschen mit Blindheit, Sehbehinderung und Hörsehbehinderung in Marburg und der Specjalny Ośrodek Szkolno-Wychowawczy dla Dzieci Niewidomych i Słabowidzących in Krakau ist ganz besonders, denn es sind zwei Blindenschulen, die einander jedes Jahr besuchen und viel voneinander profitieren.
Im Jahr 1989, noch vor der Wende, organisierte Hans Junker, damals Lehrer an der Carl Strehl Schule für junge Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in Marburg, eine Studienfahrt mit zwei 11. Klassen nach Auschwitz. Um mehr über die Situation blinder und sehbehinderter Menschen in Polen zu erfahren, stand auch ein Treffen mit dem Polnischen Blindenverband in Krakau auf dem Programm.
Von der Existenz einer polnischen Blindenschule wusste Hans Junker, doch diese beschulte nur bis zur 8. Klasse. 1990, bei der nächsten Studienfahrt, teilte ihm der Blindenverband mit, dass die Krakauer Blindenschule jetzt auch eine Oberstufe eröffnet habe. „Ich war wie elektrisiert!“, erinnert er sich in seiner Rede zum Jubiläum des Austauschs im Rathaus Marburg im Juni 2023. Auf seine erste Anfrage nach einem Schüleraustauschprojekt folgte prompt die Zusage, und 1991, kurz vor der Gründung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks, wurde der erste Schüleraustausch zwischen den beiden Blindenschulen ins Leben gerufen - geboren aus einer Vision von konkreter Völkerverständigung nach der leidvollen Geschichte, die diese beiden Völker miteinander hatten.
20 Jahre hat Hans Junker die Schulpartnerschaft auf deutscher Seite geleitet, jedes Jahr stand für die 11. Klasse eine Fahrt nach Krakau und ein Gegenbesuch in Marburg auf dem Programm.
Seit über 10 Jahren kümmert sich nun Ulrich Schütt darum, davor hatte der Lehrer die Fahrten nach Krakau schon einige Male begleitet. „Beim Austausch mit blinden und sehbehinderten Jugendlichen brauchen wir eine ausreichende Zahl an Begleitpersonen“, beschreibt er die besonderen Anforderungen. Durch das Training in „Orientierung und Mobilität“ lernen die blista-Schüler:innen, sich in der Stadt und auf dem Campus sicher und eigenständig zu orientieren. Aber in unbekanntem Terrain braucht es „sehende Begleitung“. „Die Frage, die wir uns vorab immer stellen müssen, lautet: Wie selbständig sind sie wirklich, können sie zum Beispiel ihre Betten selbst beziehen, finden sie sich im Zimmer und Bad zurecht?
Im Umgang mit Blinden ist man stark auf Sprache angewiesen – wenn wir nach Polen fahren, ist das natürlich ein Problem“, gibt er zu bedenken. Gleichzeitig fördere dies aber den Kontakt, wenn man auf gegenseitige Hilfe angewiesen sei, wenn etwa blinde Schüler:innen aus Deutschland von sehbehinderten jungen Menschen aus der polnischen Partnerschule geführt werden.
Sport verbindet
Bei der Planung müsse man sich immer fragen: Welche Aktivitäten können wir den Jugendlichen anbieten, wovon profitieren sie wirklich? Und Ulrich Schütts Antwort darauf lautet oftmals: Sport und Bewegung! „Auch bei Kennenlernspielen zum Beispiel: Ballspiele mit einem Ball mit Klingel drin, sodass man ihn hört. Oder „Mein rechter, rechter Platz ist leer“ – damit man sich im Raum bewegt und neben verschiedenen Leuten sitzt.“ Sport spiele bei den Begegnungen eine große Rolle, so fanden schon Wettkämpfe am Ruder-Trainingsgerät, Floßfahrten oder erste Versuche auf Inline-Skates statt. „Ein spezielles Highlight war einmal eine Tandemtour – dafür braucht man aber natürlich 1:1 Betreuung. Aber für alle, die noch nie Fahrrad gefahren sind, war das ein echtes Erlebnis“, erinnert sich Ulrich Schütt.
Museen, etwa das Mathematikum in Gießen oder das Chemikum in Marburg, seien durch die Experimente, 3D-Modelle und den Mitmach-Charakter gut geeignet als Programmpunkte. „Und wenn wir in Krakau das Schindler-Museum besuchen, buchen wir parallel zwei Führungen in Deutsch und Polnisch“, erklärt der Lehrer. Auch Musik spiele in Krakau und Marburg eine zentrale Rolle. Früher wurde viel zu Gitarre gesungen, heute komme die Musik eher aus dem Handy. „Ich sage meine Schülerinnen und Schülern immer: Wenn wir nach Polen fahren, möchte ich, dass ihr ein deutsches Lied vorsingen könnt“ erzählt Schütt.
Auch wenn die beiden Begriffe „Sightseeing“ und „Sehenswürdigkeiten“ etwas anderes suggerieren: Die Austauschbegegnungen seien von relativ touristischem Programm geprägt, so Ulrich Schütt: „An den Gastschulen am Unterricht teilzunehmen ist oft schwierig, da die Sprachkenntnisse nicht ausreichen.“
Die Krakauer Partnerschule liegt zentral und schön gelegen an der Weichsel, sodass Spaziergänge ins Zentrum auf dem Programm stehen: Die Atmosphäre, die Kirchenglocken, das Klappern der Pferdedroschken – auch ohne zu sehen kommen viele Eindrücke der Stadt zusammen. „Einmal waren wir in einer Chocolaterie mit einem Pralinenkurs, die Jugendlichen haben mit Assistenz selbst Pralinen hergestellt“, erzählt der Lehrer. Abends gehen die Jugendlichen selbständig in die Kneipe oder sitzen am Lahn- oder Weichselufer, mit Handys und Übersetzungs-App unterhalten sie sich.
Umgang mit Blinden
Eine besondere interkulturelle Erfahrung sei für die Schüler:innen, wie mit ihnen als blinde bzw. sehbeeinträchtigte Personen umgegangen wird. „Bei uns lautet die Regel: Man fasst einen blinden Menschen nicht einfach an. Sondern spricht ihn erst an, weil ein Kontaktversuch ja vorher nicht wahrgenommen wird. Initiative und Entscheidung für das Geführtwerden geht immer von der blinden Person aus. Bei „sehender Begleitung“ bietet die sehende Person dazu ihren Arm an“, erklärt Ulrich Schütt.
In Polen sei es öfters auch anders, so die Erfahrung der Marburger: „Da wird auch mal ein Schüler spontan gepackt und irgendwo hin manövriert. Dieser Unterschied ist für beide Seiten sehr eindrucksvoll.“
Wichtig für das Gelingen des Austauschs sei es, mit der Gruppe erst nach Polen zu fahren, und den Gegenbesuch im Anschluss stattfinden zu lassen, so Ulrich Schütt: „Die polnische Gastfreundschaft ist unwahrscheinlich – das Gepäck wird bei Ankunft von den polnischen Schüler:innen für die Gäste getragen, sie werden überall abgeholt, es gibt Gastgeschenke zur Begrüßung und beim Abschied. Wenn man das erlebt hat, ist man hinterher eher bereit sein Zimmer zu teilen, als man das vorher vielleicht gewesen wäre.“
Gesamte Institution miteinbezogen
Beide Schulen sind Internate, aber dennoch ganz unterschiedlich organisiert: In Marburg wohnen die Schüler:innen – sie kommen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum – in Wohngruppen auf die Stadt verteilt. Durch dieses dezentrale Wohnkonzept lernen die Jugendlichen, selbständig mit dem Bus zur Schule zu fahren oder einkaufen zu gehen. Die polnische Schule hingegen ist ein Campus, Wohn- und Schulgebäude sind durch einen Gang verbunden. „Es ist sehr viel beengter, sie wohnen in Vierbettzimmern, es gelten strengere Regeln. Bis vor kurzem hat die Ausstattung sehr an die 60er Jahre erinnert“, erzählt Ulrich Schütt. Dieser direkte Vergleich des Schullebens an einer Blindenschule in einem anderen Land sei für die Schüler:innen spannend.
Wenn die polnische Gruppe in Marburg ist, sei das eine Veranstaltung der gesamten Institution, so Ulrich Schütt: „Es ist immer schön, wenn nicht alles an einer Person hängt. Aber durch den erhöhten Betreuungsbedarf und die Verteilung der Gäste auf die Wohngruppen in der ganzen Stadt sind wirklich alle gefragt.“ Die Mitarbeiter:innen des Internatsbereichs werden ins Boot geholt, denn sie beherbergen ja in dieser Zeit Personen, für die diese Art des Wohnens mit seinen speziellen Regeln neu ist. Während die deutschen Schüler:innen die Wege kennen und sich durch Training eine Ausgehgenehmigung erarbeitet haben, sei die Begleitung der Gäste eine logistische Herausforderung.
Auschwitz bleibt
„Auschwitz bleibt ein fixer Programmpunkt, auch wenn es zeitlich immer weiter wegrückt. Blinde Menschen aus Deutschland befinden sich hier in einer Doppelrolle – als Teil des Tätervolkes und gleichzeitig Teil der Opfergruppe. Wir nehmen uns immer Zeit, das ausführlich zu reflektieren“, so Ulrich Schütt. Aus den jährlichen Besuchen ist die Idee entstanden, Informationen taktil aufzubereiten, beispielsweise als tastbare Übersichtspläne oder 3D-Modelle.
In Marburg ist die Schule Teil eines Kompetenzzentrums für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung, unter anderem werden auch Medien wie zum Beispiel Reliefkarten oder taktile Modelle hergestellt. „Wenn man eine solche Vorlage erst mal erstellt hat, ist sie kostengünstig zu reproduzieren. So konnten wir viel Material an unsere Partnerschule weitergeben,“, so Ulrich Schütt.
Derweil hat sich die blista in Marburg in Bezug auf die berufsbildenden Schulzweige manches in Krakau abgeschaut und von dem Knowhow profitiert – schon sehr früh besaßen die Krakauer ein Tonstudio und boten eine Ausbildung zum Toningenieur an. Heute gibt es an beiden Schulen eine Vielzahl an Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten.
Und daran will auch die Schulpartnerschaft anknüpfen: In Zukunft sollen nicht mehr nur die 11. Klassen, sondern auch die beruflichen Schulzweige in den Genuss eines Austauschs kommen, so Ulrich Schütt: „Das sind noch vage Überlegungen, vielleicht wird es auch in Richtung Praktika gehen – auf jeden Fall gibt es daran großes Interesse von beiden Seiten.“
Ein Beitrag von Christine Bertschi