Polen in der Schule - ein Erfahrungsbericht
Als ich im September 2015 kurz vor Antritt meines Referendariats ein Praktikum am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt begann, hatte ich neben Einblicken in ein mir bis dahin unbekanntes, anderes Berufsfeld auch Ideen und Anregungen für meine künftige Arbeit als Lehrerin erwartet. Was zunächst nach gegensätzlichen Erwartungen klingt, sollte sich zu einer beruflich wie auch persönlich äußerst bereichernden Erfahrung gestalten.
Seit längerem beschäftigte mich die Frage, wie man interkulturelle Bildung auf sinnvolle und effektive Art und Weise in den Schulalltag integrieren kann. Schnell gerat man da an praktische Grenzen. Oft bieten einem die Rahmenbedingungen des Unterrichts nicht die Möglichkeit, interkulturelle Exkurse zu unternehmen. Darüber hinaus stellt sich der Lehrkraft die Frage nach konkreten Inhalten und der Art der Vermittlung. Das Konzept des „PolenMobils“, das vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt entwickelt wurde, eröffnet die Perspektive, bei Schülern das Interesse am Nachbarland zu wecken und zu fordern und somit ihre interkulturelle Kompetenz zu starken. Zwei der ersten Einsätze in Hessen im Oktober 2015 habe ich begleiten und mitgestalten dürfen.
„Polenmobil“ – was ist das?
Das „PolenMobil“ ist ein Projekt des Deutschen Polen-Instituts, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit in Kooperation mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg und dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk. Das „FranceMobil“ in Deutschland und der „DeutschWagen“ in Polen standen bei dieser Idee Pate. Der Grundgedanke ist, bei deutschen Schülern Wissen über- und füreinander zu fördern, um an einer guten Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschland arbeiten und die hier erworbenen Kompetenzen im weiteren beruflichen Werdegang nutzen zu können. Dabei sollen die meist unvermuteten Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Polen herausgearbeitet werden, so etwa im sprachlichen Bereich: Einige deutsche Wörter sind aus dem Slawischen entlehnt, wie z.B. Quark (twaróg) oder Gurke (ogórek), was auf eine eng verbundene Siedlungsgeschichte und lang zurückreichende Kontakte zwischen Polen und Deutschland hinweist.
Einblicke in die wechselvolle Geschichte der beiden Länder sollen die Schüler einerseits für das Leid sensibilisieren, das sich Deutsche und Polen insbesondere im 20. Jahrhundert angetan haben, andererseits Anknüpfungspunkte an eine Tradition der Annäherung und Versöhnung, die Brandt in den 1970er Jahren mit seiner Ostpolitik und dem historischen Kniefall in Warschau eingeleitet hat, finden lassen. Der Blick auf diese von Versöhnung geprägte Entwicklung erscheint umso dringlicher, als gegenwärtig wieder nationalistische Tendenzen in Europa erstarken.
Mit dem „PolenMobil“ fahren wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts begleitet von Sprachanimatoren Schulen im ganzen Bundesgebiet an. Jede Schulart und alle Jahrgangsstufen ab Klasse 3 können sich kostenfrei anmelden. Zumeist steht die Buchung des „PolenMobils“ in Verbindung mit einem bevorstehenden Schüleraustausch oder einer Exkursion nach Polen und dient der Vorbereitung auf interkulturelle Begegnungen. Doch auch die Anknüpfung an aktuelle Unterrichtsinhalte (beispielsweise die deutsche Ostsiedlung und der Deutsche Orden im Mittelalter, die Schlesische Dichterschule im Barock, der „Völkerfrühling» im Vormärz, der Zweite Weltkrieg, die dadurch hervorgerufene Flucht und Vertreibung als historische Folie für die Gegenwart, der Fall des Sozialismus u. v. m.) oder das reine Interesse an Land und Leuten genügen für eine Anmeldung.
Beide aktuell gültigen Bildungspläne von Baden-Württemberg unterstützen diese Form der interkulturellen Begegnung ausdrücklich in nahezu jeder Klassenstufe - selbstverständlich nicht nur im Fach Geschichte. So zählt „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ bekanntermaßen zu einer der sechs fächerübergreifenden Leitperspektiven des Bildungsplans 2016. Eine chronologische Auflistung der Anknüpfungspunkte für das Fach Geschichte befindet sich bei den Materialien [M l].
Wie sieht ein Besuch des „Polenmobils“ aus?
Im Rahmen verschiedener buchbarer Module werden kulturelle, gesellschaftliche und geschichtliche Inhalte zu Polen vermittelt, wobei die einzelnen Elemente ineinandergreifen. Das Grundmodul umfasst 90 Minuten, ein erweitertes Modul beträgt 180 Minuten. In Absprache mit der Schule können zudem Schwerpunktsetzungen und Erweiterungen vorgenommen werden. Das „PolenMobil“ bietet eine Hille an vielfältigem Material und abwechslungsreichen Methoden.
Nach der Vorstellung des Teams erhalten die Schüler eine spielerische und aktivierende Einführung in die polnische Sprache und lernen die wichtigsten Wendungen kennen. Ein Vergleich zwischen der deutschen und der polnischen Sprache anhand von Lehnwörtern bietet den Anlass, über die deutsch-polnische Geschichte zu sprechen. Diese interkulturellen Aspekte werden beispielsweise einem Lehnwort-Memory bearbeitet.
Geographische oder landeskundliche Gemeinsamkeiten werden mittels Anschauungsmaterial und moderner Medien, vor allem in Gestalt von Filmen und computergestützten Präsentationen, aber auch durch Quizformen spielerisch erforscht. Je nach Absprache kann man in vertiefenden Workshops zu den Schnittstellen deutscher und polnischer Geschichte arbeiten, die politischen Beziehungen ansprechen oder literarische Texte analysieren. Die Schulen sprechen dazu ihre gewünschten Schwerpunkte mit dem Deutschen Polen-Institut ab.
Die bisherigen Erfahrungen der Schüler werden ebenfalls aufgegriffen und etwaige Vorurteile und Stereotype auf humorvolle Art und Weise thematisiert.
Das Vor- und Weltwissen der Schüler gilt es zu aktivieren und zu erweitern, indem sie auch eigene Wünsche und Schwerpunktsetzungen äußern. Die Workshops sind demnach so angelegt, dass die Schüler den Besuch des „PolenMobils“ jederzeit aktiv mitgestalten können, da das gesamte Konzept auf schüleraktivierender Teilnahme beruht und nicht etwa auf Vortragen. Während in der Unterstufe das Grundmodul insgesamt sehr spielerisch angelegt ist, beschäftigt sich die gymnasiale Oberstufe hauptsächlich mit einer Gruppenarbeit zur deutsch-polnische Geschichte (Zweiter Weltkrieg).
Die Inhalte der Module werden regelmäßig evaluiert und konzeptionell erweitert. Manfred Mack, einer der Projektleiter, sieht in jedem Einsatz eine Herausforderung und einen Anlass dazuzulernen. Verabschiedet werden die Schüler mit kleinen Präsenten, wie Info-Flyern, Stofftaschen und landestypischen Süßigkeiten. Zudem können sich die Lehrkräfte mit Unterrichtsmaterialien versorgen. Auf der Internetseite des „PolenMobils“ bietet das Institut Arbeitsblätter zu thematischen Schwerpunkten und eine Linkliste zu entsprechenden Fortbildungen und Veranstaltungen an. So finden sich dort vertiefende Materialien für die Fächer Deutsch, Geschichte und Gesellschaftskunde bzw. Erdkunde, z. B. zu Stereotypen im Alltag, zum Polen-Motiv in der deutschen Literatur, zum Vergleich zwischen Goethe und Mickiewicz, zu Brandts Kniefall, zu Solidarność, zu berühmten polnischen Persönlichkeiten u. v. m.
Die Bilanz nach einem Jahr „Polenmobil“
Mack resümiert, die Erwartungen an das Projekt seien mehr als erfüllt worden: „Schon nach zwei Monaten waren wir für das ganze Jahr ausgebucht.“ Im Schuljahr 2015/2016 hat das „PolenMobil“ 72 Schulen in Deutschland besucht. Die Billigung weiterer finanzieller Mittel machte die Anschaffung eines zweiten Wagens und eine personelle Erweiterung des Teams möglich. Darüber hinaus hat das Projekt bereits auf einigen politischen Plattformen, z.B. auf einer Veranstaltung anlässlich des 25jahrigen Jubiläums des deutsch-polnischen Partnerschaftsvertrags, als Beitrag zur Verständigung zwischen deutschen und polnischen Jugendlichen Aufmerksamkeit und Würdigung erfahren. Am bedeutendsten ist für Mack jedoch der Zuspruch der Schulen: „Fast nach jedem Einsatz werden wir gefragt, ob wir im nächsten Jahr nicht wiederkommen könnten“.
Auch ich kann diese Rückmeldung bestätigen. Allein der „Event-Faktor“, der sich für die Schüler mit dem Besuch des „PolenMobils“ verbindet und der somit für Abwechslung im Schulalltag sorgt, wirkt motivierend. Die Balance zwischen einem spielerischen Zugang und einer gehaltvollen Wissensvermittlung wird gewahrt. Die professionelle und zugleich didaktisch wertvolle Aufbereitung und Vermittlung interkultureller Kompetenzen durch „Fachleute“ gestaltet sich zielführend und augenscheinlich erfolgreich: Die Feedbacks der Schüler reichen demnach von „sehr unterhaltsam“ bis zu „endlich Klischees geklärt“.
Man kann dieses Projekt nur weiterempfehlen, und ich bin davon überzeugt, dass es als Anreiz für weitere derartige Konzepte interkultureller Bildung dienen kann. Ich nehme mir vor, in naher Zukunft das Angebot des „PolenMobils“ auch selbst (wieder) in Anspruch zu nehmen.3
MaterialienAnknüpfungspunkte in den Bildungsplänen Baden-Württembergs 2004 und 2016
Anknüpfungspunkte in den Bildungsplänen des Landes Baden-Württemberg 2004 und 2016 (kursiv)*
Allgemein: Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für das Fach Geschichte:
- Herausbildung der europäischen Identität (S. 216);
Klasse 7:
- durch die Auseinandersetzung mit der eigenen wie mit fremden Kulturen wird im Geschichtsunterricht das Identitätsbewusstsein gefördert (S. 218);
- [mittelalterliche] Formen des Kulturkontakts beschreiben und bewerten (S. 25);
Klasse 8:
- die Gründung freiheitlicher Nationalstaaten im 19. Jahrhundert in Europa analysieren und bewerten;
- den Gegensatz zwischen staatlicher Restauration und dem Streben nach Einheit und Freiheit in Europa nach dem Wiener Kongress erklären (Nationalismus, Liberalismus: Europäischer Völkerfrühling);
- die Revolutionen von 1848/49 als europäisches Phänomen charakterisieren (S. 28);
- Ursachen, Ziele und Auswirkungen der Revolution von 1848/1849 in Deutschland erläutern und regionalgeschichtliche Beispiele heranziehen (Märzereignisse) (S. 222);
- die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1870/71 analysieren und im Vergleich zu Frankreich und Polen als späte, aber vollzogene Nationalstaatsgründung beschreiben (alter Nationalstaat | junger Nationalstaat) (S. 28);
- Auswirkungen des Ersten Weltkrieges nennen und begründen (Nationalismus) (S. 223);
- das Spannungsfeld zwischen Diktatur und Demokratie in Europa charakterisieren;
- Durchbruch und Scheitern der parlamentarischen Demokratie in Europa nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1930er Jahre beschreiben sowie Hypothesen zu den Ursachen des Scheiterns entwickeln (Vierzehn Punkte: Demokratisierung, Selbstbestimmungsrecht der Volker; Nachfolgestaat; zum Beispiel ethnische Minderheit, improvisierte Demokratie | gelernte Demokratie, junger Nationalstaat | alter Nationalstaat, Wirtschaftskrise, Diktatur) (S. 31);
Klasse 9:
- wichtige Belastungsfaktoren der ersten Demokratie in Deutschland sowie Ursachen ihres Scheiterns erläutern (Vertrag von Versailles);
- persönliche Schicksale der weltanschaulichen und rassischen Verfolgung vor und im Zweiten Weltkrieg beschreiben und diese auf die nationalsozialistische Ideologie und Herrschaftspolitik zurückführen;
- Formen der Akzeptanz und des Widerstands in der Bevölkerung beschreiben und beurteilen;
- die sich aus der nationalsozialistischen Vergangenheit ergebende historische Verantwortung erkennen (Angriff auf Polen, Antisemitismus, Rassenlehre, Holocaust, Lebensraumpolitik, Konzentrationslager);
- wesentliche Ereignisse und Kennzeichen des Kalten Krieges beschreiben und in diesem Rahmen die Bedeutung der Weltmachte USA und Sowjetunion erklären (Konferenz von Potsdam, Kalter Krieg);
- Kennzeichen und Ausmaße von Zerstörung, physischer und psychischer Not sowie Flucht und Vertreibung – soweit möglich im lokalen beziehungsweise regionalen Bereich – recherchieren und den Stellenwert dieser Faktoren in der allgemeinen Situation am Ende des Zweiten Weltkrieges erkennen (S. 224);
- den Zweiten Weltkrieg charakterisieren und bewerten (Vernichtungskrieg, Holocaust- Shoah);
- die NS-Herrschaftspraxis im besetzten Europa und die Reaktionen darauf analysieren (Besatzung, Zwangsarbeit, Kollaboration, Widerstand);
- die sich aus der Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen ergebende Verantwortung begründen (Schuld, Mitschuld, „Schlussstrich“, Verantwortung) (S. 33);
- die Folgen des Zweiten Weltkriegs als Ausgangsbedingungen der Nachkriegszeit in Europa charakterisieren und beurteilen (Flucht und Vertreibung) (S. 34);
- entscheidende Schritte der Entspannung erklären (Ostverträge, Auflösung des Ostblocks) (S. 225);
- Ursachen für den Zusammenbruch des Ostblocks und das Ende des Kalten Krieges analysieren;
- die Entwicklung der Europäischen Integration charakterisieren sowie Chancen und Risiken der EU beurteilen (EU, Erweiterung, Vertiefung; Staatenbund | Bundesstaat) (S. 35);
Klasse 10:
- die Beschäftigung mit der Vielfalt kultureller und staatlicher Entwicklung in Europa sowie den daraus erwachsenden Formen europäischer Einheit unterstützt den Prozess der Identitätsfindung und dient dem Ziel, die Bedeutung historisch gewachsener Traditionen und funktionierender europäischer Strukturen zu vermitteln (S. 219);
Kursstufe:
- Zielsetzungen und Scheitern der Revolutionen von 1848/49 erörtern und deren Folgen und Auswirkungen beurteilen (Märzrevolution) (S. 227);
- die europäischen Revolutionen von 1848/49 als Versuche politischer Modernisierung charakterisieren und ihre Folgen bewerten (S. 43);
- innen- und außenpolitische Belastungsfaktoren der Weimarer Republik erläutern sowie daraus die Bedingungen für die Machtübertragung und „Gleichschaltung“ ableiten;
- Ideologie und Kennzeichen der totalitären NS-Herrschaft erläutern und den Völkermord an Juden, Sinti und Roma sowie die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges als Folge dieses ideologischen und machtpolitischen Systems erkennen (S. 227);
- Ausmaß und Formen von Akzeptanz und Widerstand in der Bevölkerung erörtern und beurteilen;
- die nationalsozialistische Vergangenheit beurteilen und ein Bewusstsein für die historische Verantwortung entwickeln, die sich aus der NS-Vergangenheit ergibt (Angriff auf Polen, Antisemitismus, Rassenlehre, Konzentrationslager, Holocaust) (S. 227f.);
- den Zweiten Weltkrieg charakterisieren und bewerten (Zweiter Weltkrieg, Vernichtungskrieg, Weltanschauungskrieg, SS, Wehrmacht, Zwangsarbeit, "Endlosung", Deportation, Holocaust – Shoah) (S. 45);
- die Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs (Potsdamer Abkommen; wirtschaftliche, politische, infrastrukturelle Zerstörung; Flucht und Vertreibung) beschreiben (S. 228);
- die Ausgangssituation in Europa nach 1945 darstellen (Zusammenbruchsgesellschaft, Flucht und Vertreibung);
- den Umgang mit Protest in West- und Osteuropa überblicksartig vergleichen und bewerten;
- Ansätze zur Entspannungspolitik in den 1960er Jahren in Ost- und Westeuropa vergleichen und bewerten;
- Aufbruchsversuche in West und Ost zu mehr Bürgerbeteiligung erläutern (S. 49);
- den Zusammenbruch des Ostblocks erklären (Solidarność);
- Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven Europas erläutern und beurteilen (Europäische Union, Osterweiterung) (S. 50);
- den Prozess der deutschen Einigung im internationalen Rahmen erläutern (Aufnahme der DDR in den Warschauer Pakt, Fall der Mauer);
- den Prozess der europäischen Einigung nach 1945 beschreiben und beurteilen sowie an ausgewählten Beispielen Chancen der EU im internationalen Rahmen diskutieren;
- erläutern, dass Möglichkeiten zur Friedenssicherung von der Berücksichtigung historischer Bedingungen abhängen beziehungsweise die Bereitschaft zur Kooperation und gegenseitigen Akzeptanz voraussetzen (S. 228).
* Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Hg.): Allgemeinbildendes Gymnasium Bildungsplan 2004, Stuttgart 2004 bzw. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Hg.): Bildungsplan 2016. Bildungsplan des Gymnasiums. Endfassung. Geschichte, Stuttgart 2016.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in:
Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien) (Hg.): Heilbronner Hefte - Zeitschrift für Didaktik & Unterricht, Heilbronn 2017, S. 59-63