Wegweiser zu Vielfalt
Vielfalt ist heute in aller Munde: Es gibt Workshops und Veranstaltungen zum Thema, Publikationen und Wettbewerbe. Und doch ist Vielfalt oder der Aspekt der Diversität im schulischen Austausch weder selbstverständlich noch ein Selbstläufer. Und vielen ist noch nicht bewusst, dass diversitätsbewusste Ansätze bei Schüler- und Jugendbegegnungen zu gelungeneren Bildungserfahrungen bei jungen Menschen beitragen können.
Zwischen 2017 und 2019 hat sich das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) in seinem Schwerpunkt Vielfalt damit auseinandergesetzt. Magdalena Zatylna stellt einige Erfahrungen und unterstützende Materialien vor, die in dieser Zeit entstanden sind und nun auf einer eigenen Website zur Verfügung stehen. Sie können als Wegweiser hin zu mehr Vielfalt auch Austausche abseits von deutsch-polnischen Partnerschaften bereichern.
„Was andere Menschen tun, denken und fühlen [...] ist ein wesentlicher Leitfaden für unser Verständnis dessen, was wir selbst sind und werden können.“
Das schreibt die bekannte Science Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin, die in ihren Werken anhand außerirdischer Kulturen und entfernter Welten universelle Phänomene der modernen Gesellschaft aufzeigt. Sie ließ sich dabei von dem Willen leiten, andere zu verstehen und kennenzulernen, was ihr fremd war. Im Unterschied zur Welt von Le Guin, die in der Zukunft angesiedelt ist, ist die Vielfalt von Menschen, Kulturen, Ansichten und Lebensweisen für uns schon heute Alltag geworden.
Entwicklungspotenzial
Internationale Schüler- und Jugendbegegnungen ermöglichen Kontakt zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Kulturen, Bekenntnisse und aus unterschiedlichen Milieus. Vielfalt ist daher ein natürlicher Bestandteil von Jugendaustausch und somit auch der Mission des DPJW. Sie bietet uns Potenzial – für Veränderung, Entwicklung und für ein besseres Bewusstsein unseres Selbst und der Welt um uns herum.
Von Theorie zu Veränderung
Womit soll man anfangen, wenn ein Austausch für alle Jugendlichen zugänglich sein soll, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion oder Weltanschauung? Wie trägt man bei jeder Etappe einer Begegnung verschiedenen Aspekten von Vielfalt Rechnung, damit niemand ausgeschlossen oder gedanklich in eine Schublade gesteckt wird? Wie zeigt man Vielfalt als Wert und Potenzial?
Zur Unterstützung von Organisatorinnen und Organisatoren hat das DPJW die Checkliste „Vielfalt bei Jugendbegegnungen“ herausgegeben. Mit ihr lässt sich ein Projekt so planen, dass zu jedem Zeitpunkt die wichtigsten Aspekte von Vielfalt berücksichtigt werden.
Ist die Teilnahme an einem Austausch eine Belohnung für die besten Schüler/-innen oder auch eine Chance für die, die nicht nur Einsen haben? Werden Aufgaben nach Geschlecht oder nach Kompetenz verteilt? Solche und andere Fragen können als Wegweiser dienen, damit allen Interessierten eine Teilnahme möglich ist und die vielfältigen Bedürfnisse, Sichtweisen und auch das Potenzial der Teilnehmenden berücksichtigt wird.
Wissen festigen
Andere Menschen und das Wesen von Vielfalt zu verstehen gelingt leichter, wenn man die grundlegenden Begriffe, Definitionen und Phänomene kennt, die hiermit verbunden sind. Denn Wissen erweitert den Horizont und öffnet den Raum für Diskussionen und Meinungsaustausch. Was ist Bodyism und was Inklusion? Worin unterscheiden sich Interkulturalität, Multikulturalität und Transkulturalität? Warum ist Flucht nicht Migration?
Das DPJW hat Definitionen zentraler Begriffe als zweisprachige bebilderte Karten herausgegeben, die auch auf Unterschiede in der
Terminologie und beim Umgang mit bestimmten Aspekten von Vielfalt in Deutschland und Polen eingehen. Die Karten können zum Nachdenken anregen und bei deutsch-polnischen Begegnungen zum Ausgangspunkt für Diskussionen mit den Jugendlichen werden.
Fit für Vielfalt?
Wissen ist jedoch nicht alles. Um wirklich „fit“ in Sachen Vielfalt zu sein und Jugendliche wirksam dabei unterstützen zu können, eine
offene und verständnisvolle Haltung anderen Menschen gegenüber einzunehmen, gilt es zunächst, an sich selbst zu arbeiten. Der
Schlüssel zum Erfolg kann darin liegen, dass man über seine eigenen Stereotype und Vorurteile nachdenkt, festgefahrene Überzeugungen ablegt und sich für Vielfalt öffnet. Nur so kann man Jugendliche glaubhaft bei ihren Veränderungen begleiten sowie dabei, ihre Identität zu entdecken und anderen authentisch zu begegnen.
Begegnung mit der „Lebendigen Bibliothek“
Das Wesen eines jeden Schüler- oder Jugendaustauschs liegt in der Authentizität der Begegnung und der Offenheit anderen gegenüber. Begegnung und Dialog sind auch die Grundpfeiler der „Lebendigen Bibliothek“. Hierbei geht es um ein persönliches Gespräch von „Leserinnen und Lesern“ und „lebendigen Büchern“ in vertrauensvoller und offener Atmosphäre.
„Bücher“ sind dabei Menschen, die ihre Geschichte und ihre Erfahrung teilen, die sie als Angehörige einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe erworben haben. Oft müssen sie sich gegen Vorurteile wehren und sind Diskriminierung ausgesetzt. Der Dialog mit ihnen gibt den „Leserinnen und Lesern“ die Möglichkeit, ihre eigenen Ansichten und Ängste zu hinterfragen. „Bücher“ und „Leser/-innen“ öffnen sich schrittweise gegenüber dem jeweils anderen und entdecken, wie viel sie verbindet – oftmals nicht nur schwierige Erfahrungen mit Ablehnung, sondern auch Träume, Leidenschaften oder Interessen.
Als das DPJW die Methode zum ersten Mal bei einer Jugendbegegnung einsetzte, zeigte sich eindrucksvoll, welche ungeahnten Ergebnisse sie bringt. So wurde eine Frau, die früher auf der Straße lebte, zu einem Menschen mit einer bewegenden Geschichte, mit Träumen und Zukunftsplänen.
Diese und viele andere Methoden werden auf der neuen Website des DPJW zum Schwerpunkt Vielfalt vorgestellt. Keine Angst: Alle Materialien sind auf Deutsch verfügbar und nicht nur für den deutsch-polnischen Austausch geeignet.
Öffnen wir uns für Vielfalt, öffnen wir uns für andere und die Welt um uns herum. Bücher – ob echte oder lebendige – sind, um auf Le Guin zurückzukommen, „ein wesentlicher Leitfaden für unser Verständnis dessen, was wir selbst sind und werden können.“ Deshalb lohnt es sich, möglichst oft verschiedenen Büchern zu begegnen, durch die wir uns weiterentwickeln und unsere Sicht der Welt ändern. Denn schließlich ist jeder von uns nicht nur Leser, sondern auch lebendiges Buch – mit seiner eigenen Geschichte und der Erfahrung, „anders“ zu sein.
Das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) hat diesem Thema 2017-2019 einen Schwerpunkt gewidmet und durch Initiativen und Projekte die Diskussion darüber angeregt, wie alle, die es möchten, in den deutsch-polnischen Jugendaustausch einbezogen werden können. In einer Ausgabe des DPJW-Magazins INFO werden z.B. verschiedene Aspekte von Vielfalt beleuchtet:
- Was ist bei einem Austausch mit körperlich eingeschränkten Menschen zu beachten?
- Wie kann eine Begegnung zwischen einem muslimischen Sportverein aus Deutschland und einer Grundschule aus Polen gelingen?
- Wie lassen sich „Bilateralschäden“ bei bilateralen Projekten vermeiden?
- Wie lässt sich bei der eigenen Arbeit Inklusion fördern, und wie reagiert man wirkungsvoll auf Hate Speech?
Auf „Diversity Box”, der Internetseite des DPJW zu Vielfalt, sind alle Materialien und Beiträge zum Thema versammelt.
Wir wünschen eine anregende Lektüre!