Gemeinsam Programmieren und Deutsch lernen
Der Sinn der Internationalen Förderklassen ist, dass die Schüler:innen schnell Deutsch lernen. Johannes Bellebaum von der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen wollte mit seiner Klasse trotzdem einen Austausch machen – und hat sich deshalb mit Deutschlernenden aus anderen Ländern zusammengetan. Gemeinsam programmieren sie ein Spiel, und aus dem virtuellen Austausch ist eine Begegnungsreise entstanden.
Wie kam es zu Ihrem Projekt #CODEutsch?
Johannes Bellebaum: Ich unterrichte eine Internationale Förderklasse (IFÖ). Das sind Schüler:innen, die erstmal Deutsch lernen müssen, bevor sie die Regelklassen besuchen können. In meiner Klasse sind Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren.
Die Grundidee für #CODEutsch entstand bei einer Konferenz von eTwinning. Mir ist aufgefallen, dass alle eTwinning-Projekte auf Englisch stattfinden. Na toll, dachte ich, das können meine Schüler:innen nicht, da können wir nicht mitmachen. Aber dann kam mir der Gedanke: An vielen Schulen im Ausland lernen die Kinder Deutsch als Fremdsprache, warum nicht gemeinsam Deutsch lernen?
Dann das zweite Hindernis: Meine Schüler:innen können kaum mit dem Computer umgehen – wie soll das klappen mit einem digitalen Projekt? Auch diese Hürde haben wir einfach zum Kern des Projekts gemacht. Denn ohne EDV-Kenntnisse ist es schwer heute auf dem Arbeitsmarkt, und Programmierkenntnisse und das Denken dahinter sind auch gefragt.
Das erstaunt – sind die Jugendlichen heute nicht digital natives?
Jein – es hängt nicht nur von der Herkunft der Kinder und von der Art des Geräts ab, sondern teilweise sogar vom Geschlecht: Für viele rumänische Mädchen ist das Schul-iPad das erste eigene digitale Gerät. Bei ihren Brüdern sieht das anders aus.
Die Rate an Smartphones steigt stetig, aber Computer benutzen nur wenige. Für Corona war das vernichtend: Computer waren an unserer Schule in nur 15 % der Haushalte vorhanden.
Wir fangen mit den absoluten Basics an: Wo schalte ich den Computer an, wo gebe ich meinen Benutzername ein, wie funktioniert eine Ordnerstruktur? Das sind die Skills, die es braucht, um beim Programmieren dann etwas Cooles, Kreatives zu erschaffen – und mit diesem Ziel vor Augen kommt auch die Motivation!
Wie läuft der digitale Programmier-Austausch ab?
Zum Austausch mit unserer Partnerschule nutzen wir den TwinSpace, also unseren eigenen Bereich auf der eTwinning-Plattform. Dort tauschen sich die jetzigen und auch die ehemaligen Projektteilnehmenden aus, vernetzen sich und planen die Programmier-Projekte.
Programmiert wird mit Scratch. Das ist eine visuelle Programmiersprache, mit der schon Grundschulkinder arbeiten können. Gleichzeitig ist Scratch eine Plattform und eine Community. Und die Ergebnisse können auf der Website nicht nur angeschaut, sondern auch kopiert und damit weitergearbeitet werden.
Doch vorab ging es um elementare Dinge: Wir brauchten Computer und bekamen sie dank einer Förderung einer Stiftung. Unsere Schule hatte, als wir vor vier Jahren mit dem Projekt anfingen, zwar einen Computerraum. Aber dafür musste man sich immer in eine Liste eintragen und hoffen, dass ihn nicht andere Klassen auch benötigen. Für ein Austauschprojekt muss ich mir aber sicher sein, dass es klappt, da unsere Austauschpartner ja auch planen müssen. Inzwischen hat jedes Kind unserer Schule ein eigenes iPad.
Programmieren mit Jugendlichen, die weder mit Computern noch mit der deutschen Sprache besonders vertraut sind, klingt herausfordernd – was kommt dabei heraus?
Früher haben wir eher kleinere Sachen programmiert, jetzt sitzen wir an einem großen Projekt: Wir möchten mit einem Spiel erfahrbar machen, wie es ist für Kinder, neu nach Deutschland zu kommen. Auf dem Bildschirm gibt es Szenarien, zum Beispiel: „Du schreibst heute einen Mathetest. Aber deine Mutter ist krank, kann kein Deutsch und muss zum Arzt. Was machst du?“ Wir gestalten verschiedene Handlungsstränge: Pausenplatz, Familie, Freunde finden. Je nachdem wie man sich verhält, steigen oder sinken die Punkte der einzelnen Stränge. Wir wollen damit abbilden, wie vielseitig Inklusion ist. Ziel des Spiels wäre, die Punktzahl der Handlungsstränge möglichst ausgeglichen zu halten, also keinen Lebensbereich komplett zu vernachlässigen.
Aktuell haben wir zwei verschiedene Versionen des Spiels: eine Gruppe will, dass man die Fragen mit einem Swipe nach rechts oder links beantworten kann. Das ist aber technisch etwas schwierig. Die andere Gruppe möchte die Spieler:innen einfach auf einen Knopf drücken lassen.
Das ist das Tolle an Scratch: Man kann ein Projekt einfach kopieren und daran weiterarbeiten – auch an fremden Projekten. Durch diese Funktion namens „Remix“ kann zum Beispiel auch eine andere Schule unser Spiel als Grundlage nehmen und daran weiterarbeiten.
Noch ist es ein Prototyp, es sind viele Bugs drin, aber hier kann man sich schon einen ersten Eindruck verschaffen: https://scratch.mit.edu/projects/876770840/
Bei der Entwicklung des Spiels trägt jeder seinen Teil bei, die anderen müssen jeweils das Korrektiv sein. Wir haben die Handlungsstränge aufgeteilt, sodass Kleingruppen daran arbeiten.
Die Planung der einzelnen Szenarien findet erst analog, auf einem Stück Papier, statt: Was wollen wir erzählen, wie soll der Text lauten? Dann wird in den Computer eingetippt. Mit unserer Partnerschule vernetzen wir uns neben TwinSpace auch über Videokonferenzen. Seit wir über eine Förderung ein Raummikrofon bekommen haben, funktioniert das noch besser.
Sie sind Lehrer für Religion und Deutsch. Wie kommen Sie zur Informatik, wie viel muss man als Lehrkraft selbst davon verstehen, um mit Scratch zu arbeiten?
Ich selbst hatte in der Schule nie Informatik, aber interessiere mich schon länger dafür. Letztes Jahr hatte ich zum ersten Mal eine Fortbildung, davor habe ich mich selbst reingefuchst. Es muss einem selbst Spaß machen, denn es ist natürlich immer eine Abwägung: Der Unterricht nach Buch vorzubereiten geht schneller, aber die Verbindung Lernertrag – Motivation ist bei so einem Projekt höher. Aber es ist auch Aufwand, und man muss mit Einschränkungen klarkommen: die Wartung der Rechner dauert an der Schule meist lange, dann funktioniert das Internet mal nicht…
Würden Sie denn nun Scratch empfehlen, um – auch gemeinsam, als Austauschprojekt – eine Fremdsprache zu praktizieren?
Generell funktioniert es gut, und auch beim Besuch konnten sich die Schüler:innen ganz gut verständigen. Die Jugendlichen ergänzten sich gut: meine Klasse hat natürlich im Mündlichen, in der Umgangssprache einen deutlichen Vorsprung, und schriftlich ist es genau anders rum.
Sie haben es gerade angedeutet – zu den virtuellen Austauschen kam im vergangenen Schuljahr ein gegenseitiger Besuch in Adana und Gelsenkirchen.
Aus der gemeinsamen Projektarbeit ist der Wunsch einer „realen“ Begegnung gewachsen. Im Herbst 2022 war ich mit meiner Klasse in Adana, im Frühjahr 2023 durften wir die türkischen Schüler:innen in Gelsenkirchen begrüßen. Es ist war weit mehr als eine normale Klassenfahrt – auch vom Aufwand her, zum Beispiel die Beschaffung der Visa stellte uns vor ungeahnte Herausforderungen. Für viele der Jugendlichen war es das erste Mal fliegen, das erste Mal im Hotel schlafen und das Meer sehen. Neben der Weiterarbeit an unserem Projekt gab es jeweils ein abwechslungsreiches Programm.
Ohne die Deutsch-Türkische Jugendbrücke wäre das alles nicht realisierbar gewesen. Wir arbeiten schon vier Jahre zusammen. Sie sind immer sehr auf uns eingegangen, haben zum Beispiel auch die Visakosten übernommen, die ja für deutsche Schüler:innen nicht angefallen wären.
Ich würde gerne noch mal so einen Austausch organisieren, aber nicht jedes Jahr. Geldmittel sind die eine Sache, aber die Klasse muss passen, die personellen Ressourcen müssen vorhanden sein. Ich muss nebenbei ja auch noch Lehrer sein.
Warum haben Sie die Türkei als Partnerland ausgesucht?
Die Schule in Adana in der Türkei ist unsere Kernpartnerschaft, es sind aber noch andere Länder beteiligt. Einerseits lag das an der türkischen Kollegin, die sehr aktiv ist. Menschlich passt es gut, was für die Zusammenarbeit wichtig ist. Andererseits hat unsere Schule im Regelsystem einen ganz großen Türkeibezug, viele ehemalige Gastarbeiterfamilien, wo die Großeltern aus der Türkei als Bergbauer hierherkamen.
Unsere Partnerschaft ist bis jetzt stabil und kann so weitergeführt werden. Ich bin dauerhaft im IFÖ-System und kann dadurch planen: Ich weiß, welche Altersgruppe ich in den nächsten Schuljahren habe und dass es auch in Zukunft Deutschlernende sein werden. Und auch in der Türkei gibt es an unserer Partnerschule weiterhin großes Interesse daran, Deutsch zu lernen und das Projekt weiterzuführen.
Die Kinder der internationalen Förderklassen gehen nach einem Jahr in Regelklassen. So kommt es, dass sie zu Multiplikator:innen werden, das Interesse daran an die ganze Schule tragen und daraus weitere Projekte entstehen wie eine Roboter-AG oder eine VR-Station.
Welches Feedback haben Sie von den Jugendlichen bekommen?
Jedes Jahr bekomme ich eine neue Klasse. Dieses Jahr lautete die erste Frage der Kinder: Fahren wir in die Türkei? Das sagt doch schon alles!
Und auch beim Programmieren sind die Kinder sehr motiviert. Auch wenn das Internet an der Schule mal wieder langsam ist, bestehen sie darauf, an ihrem Projekt weiterzuarbeiten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Christine Bertschi.