Internationale Bildung als Element von Schulentwicklung
Prof. Dr. Andreas Thimmel forscht und lehrt an der Technischen Hochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften mit dem Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung. Im Gespräche mit Meike Köhler geht er auf den von ihm geprägten Begriff Internationale Bildung ein und fordert ein ganzheitlicheres Bildungsverständnis.
Herr Professor Thimmel, seit vielen Jahren befassen Sie sich mit internationaler Jugendarbeit. Während einer Tagung im Herbst 2014 haben Sie den Begriff „Internationale Bildung“ eingeführt. Was ist das – „Internationale Bildung“?
Ich habe den Begriff „Internationale Bildung“ eingeführt, um einen Oberbegriff zu haben für die internationale Jugendarbeit, die als Teil von Jugendarbeit zu verstehen ist, und für die Begegnungsaktivitäten im Bereich der Schule, wobei ich mich besonders auf gruppenbezogenen Austausch beziehe. Mit Hilfe des Begriffs „Internationale Bildung“ lässt sich deutlich machen, dass der formale und der non-formale Bildungsbereich konzeptionell große Gemeinsamkeiten haben. Zugleich ist er sinnvoll, um internationale Jugendarbeit und schulische Begegnungen voneinander abzugrenzen. Internationale Jugendarbeit kann nicht der Oberbegriff sein für die Aktivitäten in der Schule, weil dann die Besonderheiten der Jugendarbeit nach Paragraph 11 SGB 8 Kinder- und Jugendhilfegesetz – Freiwilligkeit, Partizipation, Spontanität etc. – verschwinden würden.
Wenn außerschulische internationale Jugendarbeit und schulische internationale Aktivitäten viel gemeinsam haben, wäre dann die internationale Bildung ein gutes Feld für Kooperationen?
Ich bin der Meinung, dass die internationale Bildungsarbeit ein Sektor ist, in dem Schule und Jugendarbeit gut miteinander kooperieren können. Vor dem Hintergrund der Ganztagsschulentwicklung und der Konzeptionsentwicklung von Jugendarbeit ist die Kooperation von Jugendarbeit und Schule in Deutschland sogar notwendig. Diese Kooperationen dürfen aber nicht zur Verzweckung von Jugendarbeit führen, so dass dann womöglich für die Aktivitäten in der Jugendarbeit Noten gegeben werden oder die Grenzen zwischen außerunterrichtlichen und unterrichtlichen Aktivitäten verschwimmen. An dieser Konzeptionsklarheit müssen Jugendarbeit und Schule arbeiten.
Insofern bin ich weiterhin der Meinung, dass internationale Bildung ein gutes Feld für Kooperationen ist, aber nur wenn die Akteure selbst ihre Unterschiede und Differenzen gut kennen und man sich nicht gegenseitig überfordert. Daran zu arbeiten, ist ein interessantes und notwendiges Projekt. Und gerade für internationale Begegnungen kann die internationale Jugendarbeit Beispiele geben, wie man konkrete Projekte gut gestalten kann, aber auch welche Fehler man machen kann.
Könnten Sie das noch weiter ausführen? Was kann Schule von Jugendarbeit lernen im Bereich der internationalen Bildung?
Auf einer theoretischen Ebene geht es darum, was für ein Bildungsverständnis Schule hat. Und da gibt es meiner Ansicht nach innerhalb von Schule eine Diskrepanz. Wenn man die Schulgesetze anschaut, dann ist dort die Rede von einer ganzheitlichen Bildung.
In der Umsetzung erleben wir aber oft, dass ein enges Verständnis von Bildungsinhalten und von Lernzielen praktiziert wird und eine ganzheitliche Bildung bei vielen Widerstand hervorruft. Die Pädagogik der internationalen Jugendbildung hingegen ist nichts anderes als ein Beispiel für eine ganzheitliche Bildung, für Lernprozesse, die auf Schüler und Schülerinnen, aber auch auf Lehrkräfte sowohl kognitiv als auch emotional wirken. Und da haben wir seit 20, 30 Jahren ganz viele gute methodische Erfahrungen damit, was notwendig ist, damit dieses Lernen auch gelingt. Insofern ist Voraussetzung für eine Kooperation von Schule und Jugendarbeit die Frage, ob sich Schule einlässt auf das Thema der Schlüsselkompetenzen, der Reflektion, der langfristigen Lernprozesse, des Ernstnehmens von Peerbeziehungen, eben auf ein breiteres Bildungsverständnis.
Diese Grundsatzfrage muss jede Schule für sich klären. Und da ist die internationale Bildung ein Format neben anderen, also zum Beispiel Medien, Theater, Kultur, erlebnispädagogischen Projekten, in denen ganzheitlich gelernt wird. Und wenn Schule das für nicht relevant hält, dann hat es im Grunde genommen keinen Sinn, einen Schüleraustausch oder eine Kooperation durchzuführen, in der es dann auf einmal darum gehen soll ganz kleinschrittig unterrichtlich relevante Themen abzuarbeiten.
Das heißt, internationale Bildung ist ein Thema von Schulentwicklung?
Internationale Bildung ist ein Element von Schulentwicklung. Und es ist nicht nur ein zusätzliches Thema, sondern gleichzeitig muss ich mir über die veränderte Methodik und Didaktik im Klaren sein. Und das ist eine Grundsatzentscheidung. Und die Grundsatzentscheidung heißt: Ich sehe das als ein Modul ganzheitlicher Bildung. Und dann können sich schulische und außerschulische Partner darüber unterhalten, wie in den gemeinsamen Aktivitäten Selbständigkeit gelernt wird, wie dort Auseinandersetzung mit dem Ungewohnten gelernt wird usw.
Sie bilden Sozialpädagogen aus, die lernen, wie man non-formale Erlebnisräume gestaltet. Wie schätzen Sie denn die Situation in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern ein? Lernen sie in ihrer Ausbildung, wie internationale Bildung gestaltet werden kann?
Das kann ich nicht so ganz einschätzen. Es gibt nur viele Hinweise, dass das Thema neben ein paar Ausnahmen in der Lehrerbildung an Hochschulen nicht behandelt wird. Das liegt vermutlich daran, dass dieser gerade von mir beschriebene ganzheitliche oder letztlich auch inklusive Ansatz nur in wenigen Seminaren für zukünftige Lehrerinnen und Lehrer diskutiert und auch erlebt wird. Es ist nicht fremd in der Lehrerbildung, aber politisch hat sich das bisher kaum ausgewirkt. Und es gibt wenige Möglichkeiten diese ganzheitliche, reflexive Bildung in einer internationalen Begegnung überhaupt mal zu erleben und zu sehen, was für Methoden da überhaupt notwendig sind.
Viele Förderinstitutionen fordern ja eine Projektorientierung in internationalen Begegnungen. Vor Kurzem stieß ich auf einen Beitrag von Burkhard Müller aus dem Jahr 1995, in dem er einige Grundannahmen infrage stellt, die üblicherweise für internationale Begegnungen gelten. Unter anderem die Annahme, „dass es für die gegenseitige Verständigung fruchtbar sei, wenn vorweg ein möglichst eindeutiges Thema vereinbart ist und möglichst alle sich an dieses Thema halten. Die vorweg unterstellte Gemeinsamkeit führt leicht dazu, die „wirklichen“ Ziele, mit denen die Teilnehmenden kommen und für sie „Begegnung“ suchen, gar nicht wahrzunehmen.“* Wie stehen Sie dazu? Ist Projektorientierung per se gar nicht das Ideal für eine Begegnung?
Wir müssen hier unterscheiden. Erstens: Im Kontext der Begegnungspädagogik in ihrer Hochphase in den 90er Jahren geht es darum, Räume zu schaffen, in denen Jugendliche sich miteinander als Personen unterschiedlicher Nationen auseinandersetzen und das in einem pädagogischen Rahmen. Wenn ich jetzt aber pädagogischen Rahmen sage, dann meine ich nicht schulpädagogisch, sondern jugendpädagogisch. Das erfordert ein Zurücknehmen der Lehrerin und des Lehrers. Und diese Haltung, die Jugendlichen experimentieren zu lassen, ist der Kern einer Pädagogik der Begegnung. Und zugleich müssen die Jugendlichen darüber reflektieren, was in ihrer Begegnung passiert, mit welchen Stereotypen sie arbeiten. Und auch da muss die Reflektion so sein, dass ich als Lehrer oder Teamerin nicht die Definitionsmacht habe, darüber zu entscheiden, was richtig und falsch ist, sondern mich in einen Dialog begebe.
Zweitens ist eventuell eine Abneigung einzelner Lehrerinnen und Lehrer gegenüber Projekten. Das hat etwas damit zu tun, welche Rolle Projekte innerhalb der Schulgemeinschaft und des Schuljahres spielen. Möglicherweise hat Schule die Idee von Projektarbeit so in ihr Gegenteil gekehrt, dass ich, wenn ich ein Projekt durchführe, auch Erfolge vorweisen muss, dass ich einen genauen Anfang und ein definiertes Ende haben muss und dass dadurch nicht die Freiheit und Experimentierfreudigkeit da ist, über die ich als Grundansatz von internationaler Bildung gesprochen habe.
Das dritte ist die Falle, in die wir in den letzten Jahren im Rahmen von Stiftungen und Projektmanagement geraten sind, dass wir diese Management-Logik eines festgelegten Anfangs und eines vorherbestimmten Endes übertragen haben auf die Begegnungspädagogik. Und da wäre ich nun heute auch wieder etwas vorsichtiger in meiner Aussage, dass ich immer ein gemeinsames Thema brauche.
Abschließend würde ich sagen, dass es hinsichtlich einer Projektorientierung kein Ja und kein Nein gibt. Man kann begründet dafür argumentieren, dass Jugendliche aus verschiedenen Ländern sich mit einem gemeinsamen Thema beschäftigen. Das muss dann aber noch nicht eine Projektorientierung im engeren Sinne sein. Aber das, was Burkhard Müller meint, ist die Begegnung mit Anderen als eigenem Bildungsziel. Und das ist natürlich sehr voraussetzungsvoll und wichtig. Und oft brauche ich erst vor diesem Schritt der tieferen Begegnung etwas Konkretes, ein Thema.
Wir sehen es ja z.B. in den Workcamp-Organisationen, die gute Erfahrungen damit gemacht haben, dass dort sowohl an einem Projekt gearbeitet wird und gleichzeitig Raum und Zeit bleibt für die ungesteuerte offene Begegnung. Also käme es darauf an, dass wir Projektorientierung nicht überstrapazieren, sondern dass auch sehr viele Freiräume für die Begegnung der Jugendlichen untereinander bleiben, wie Burkhard Müller es gemeint hat.
Ich möchte mich von den Gedanken des (leider zu früh verstorbenen Kollegen) noch einmal beeinflussen lassen und finde es gut, dass nach den letzten 10 Jahren, wo wir in vielen Feldern einem Projektstress gefolgt sind, wir wieder etwas lockerer werden. Und da hilft uns der Hinweis auf die Schriften von Burkhard Müller im Rahmen seiner Studien für das Deutsch-Französische Jugendwerk.
Zum Schluss noch eine praktische Frage: Welche Tipps würden Sie einem/r schulischen oder außerschulischen Projektleiter/in geben, damit eine internationale Begegnung zu einer guten Erfahrung für alle Beteiligten wird?
Punkt 1: Ich muss die praktischen Probleme von Schlafen, Essen, Organisation etc. auf einem vernünftigen Niveau lösen. Denn erst dann entgehen die Projektleitungen der Gefahr, dass die praktischen Probleme die gesamte Pädagogik überlagern.
Punkt 2: Ich brauche die Begründung für mich selbst, warum mir die internationale Begegnung als Pädagoge/Pädagogin wichtig ist. Ich muss mich also meiner eigenen Motivation versichern und mich fragen: basiert sie auf einem Kern, der eine Offenheit der anderen Gruppe, dem anderen Land, der anderen Kollegen ermöglicht?
Und das dritte: Ich muss mich mit meinem Partner auf Gemeinsamkeiten einigen, die unser Handeln leiten, also zum Beispiel ein gemeinsames Projekt und eine gemeinsame Vorstellung davon, wie wir mit den teilnehmenden Jugendlichen umgehen – auch wenn ich das vermutlich erst im Laufe der Zeit, die ich mit den Jugendlichen und den Kollegen und Kolleginnen verbringe, etwas mehr erfahren habe.
Herr Prof. Thimmel, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führte Meike Köhler von der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch am 4. September 2015.
*Burkhard Müller: Das Thomas-Mann-Syndrom oder: die Wiederentdeckung der Vorurteile (Arbeitstext DFJW Nr. 9), Berlin 1995, S. 18 (http://www.dfjw.org/paed/texte/thmann/thmann6.html, abgerufen am 07.08.2015)