„Kinder sind noch offen für die Schönheiten der Kultur“
Die Montessorischule Huckepack in Dresden und die Maiyuqiao Primary School in Hangzhou (China) verbindet seit über einem Jahrzehnt eine Schulpartnerschaft. Die pädagogischen Ansätze der beiden Schulen könnten kaum unterschiedlicher sein. Dennoch findet der Dresdener Lehrer Oskar Glöckner auch Gemeinsamkeiten und erzählt im Interview, wie sie voneinander lernen können.
Teil 6 unserer kleinen Serie zum Thema Grundschulaustausch, weitere Interviews folgen!
Hier geht es zu den bereits erschienenen Interviews und weiteren Materialien.
Herr Glöckner, seit 12 Jahren gibt es die Schulpartnerschaft zwischen der Freien Montessorischule Huckepack in Dresden und der Maiyuqiao Primary School in Hangzhou – Hintergrund ist eine Städtepartnerschaft. Weshalb hat sich Ihre Schule dafür entschieden, in diesen Austausch zu gehen?
Oskar Glöckner: Meine Kollegin im Ruhestand hat Chinesisch studiert. Als sie von der neuen Städtepartnerschaft gehört hat, hat sie sich an die Stadt gewandt. Bis dahin war eher eine Wirtschaftspartnerschaft geplant, die Erweiterung um eine Schulpartnerschaft war willkommen. Angefangen hat es mit Briefwechseln, 2010 stand der erste Besuch von Kindern und Lehrer*innen der Maiyuqiao-Schule bei uns in Dresden an. Bald folgte ein Gegenbesuch, nun ist es ein schönes Hin und Her. Letztes Jahr waren 17 Schüler*innen aus Dresden in China, ich durfte sie begleiten.
Im Kollegium gibt es nicht den einen Hauptverantwortlichen, sondern: Wer hat Lust mitzufahren? – das heißt dann aber auch mitzuorganisieren. Vier, fünf Kolleg*innen planen und begleiten den Austausch gemeinschaftlich. Für die chinesische Seite ist es jedoch wichtig, dass wir eine Person hauptverantwortlich als Leitung definieren.
Warum, finden Sie, soll internationaler Austausch – sogar über die Kontinente hinweg – schon in der Grundschule beginnen?
Einen Austausch in den frühen Jahren zu machen ist wichtig: die Kinder sind noch viel offener für die Schönheiten der Kultur. Ohne voreingenommen zu sein, erleben sie die Lebensweisen der jeweils anderen und stellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Sie freunden sich mit ihren Gastkindern an und bleiben in Verbindung.
Wie ist die Schulpartnerschaft im Schulalltag integriert?
Unsere Austausch-Schüler*innen sind zwischen 11 und 13 Jahre alt und besuchen die Mittelstufe (4.-6. Klasse). Während die Freie Montessorischule Huckepack knapp 500 Schüler*innen besuchen, sind es in der Primary Maiyuqiao School der Millionenmetropole Hangzhou fast zehnmal so viele Kinder und Jugendliche.
Die Schulpartnerschaft ist insbesondere durch die China-Werkstatt im Schulalltag präsent. In diesem Ganztagesangebot können die Kinder 1,5 Stunden pro Woche neue Kompetenzen erwerben und in die chinesische Kultur eintauchen: Teezeremonie, Verhalten, Sprache, Unterschiede zu unserer Gesellschaft und erstes Ausprobieren in der Kalligraphie. Ein positiver Nebeneffekt: Kinder, die dieses Angebot besucht haben, haben einen ganz anderen Umgang mit Fremdem. Im 6-Wochen-Rhythmus darf jede*r teilnehmen, die Chinawerkstatt ist für alle spannend – manche absolvieren sie sogar mehrmals.
Durch Manga, K-Pop und C-Pop ist die Kultur präsent. In der Werkstatt können die Kinder den Background dazu kriegen: Was ist das für ein Land, welche Kultur gibt es dort, was darf ich dort tun und was nicht. Am Ende der Werkstatt wissen die Kinder nicht nur über Geografie, Kochkunst, Sitten und Gebräuche in China Bescheid, sondern können auch ihren Namen mit chinesischen Schriftzeichen schreiben.
Geleitet wird die China-Werkstatt von Yini Tao, sie ist an der Freien Montessorischule Huckepack auf Stundenlohn-Basis extra dafür angestellt. Sie begleitet auch die Austauschbegegnungen, als Guide und Dolmetscherin – wobei noch ein zusätzlicher Dolmetscher dabei ist. Ohne eine so große Hilfe wie Yini Tao, die Kultur und Sprache beherrscht, wäre ein solcher Austausch nicht möglich.
Wie beeinflusst die Montessoripädagogik Ihren Austausch, dessen Einbettung in den Unterricht und die Schulgemeinde? Wie ist das pädagogische Konzept Ihrer Partnerschule?
„Hilf mir, es selbst zu tun“ ist ein Leitmotiv der Montessoripädagogik. Wir helfen den Schüler*innen, individuell zu lernen, zu ihrem Ziel zu kommen, öffnen ihnen das Fenster zur Welt. Das ist völlig konträr zur staatlichen Regelschule und noch ein ganzer Tick extremer entfernt ist das chinesische Schulsystem.
Grundsätzlich sind wir aber alles Pädagogen, nur halt unterschiedlich in der Methodik und der Didaktik. Die Kolleg*innen aus China waren beeindruckt über die Individualität bei uns. Und wir über den fantastisch vorbereiteten Unterricht und die viele Liebe den Kindern gegenüber.
In chinesischen Klassen sitzen 40 bis 50 Kinder – doppelt so viele wie bei uns. Sie arbeiten im Klassenzimmer mit Kopfhörern und Lautsprechern. Es war für uns total spannend zu erfahren, wie sich der Unterricht unter solchen Bedingungen anfühlt.
Sehr überrascht und beeindruckt waren wir an unserer chinesischen Partnerschule, wie sie die besten Schüler*innen mit Portraitbildern in den Gängen ausgezeichnet haben. Und zwar nicht nur in Mathe, sondern auch die besten in der Teezeremonie, in Musikinstrumenten, im künstlerischen Bereich – das haben wir uns als Idee für zuhause mitgenommen.
In Ihrem Schulhaus gibt es ein spezielles „Chinazimmer“, in dem zum Beispiel die gegenseitigen Geschenke und Projekte ausgestellt werden. Hängt dieses Konzept mit der Montessoripädagogik zusammen?
Die Schulpartnerschaft mit China ist an unserer Schule der Schulaustausch. Es geht uns aber auch um die Friedenserziehung nach Maria Montessori: für den Weltfrieden und die Völkerverständigung. Dieses Anliegen möchten wir sichtbar im Haus haben. In China gibt es übrigens an unserer Partnerschule äquivalent ein Dresden-Museum. Es ist sehr viel größer, mit Glasvitrinen. Die Montessori-Materialien, die wir mitgebracht haben, werden nicht benutzt, sondern hinter Glas ausgestellt – zwar schade, aber damit zeigen sie uns ihre Wertschätzung.
Wie läuft der Austausch ab und mit welchen Eindrücken kommen die Kinder von den Begegnungen zurück?
Sowohl die chinesische Gruppe als auch wir verbringen jeweils zwei Wochen im Gastland. Eine Woche touristisches Programm und eine Woche in der Schule und der Gastfamilie.
Wir haben bei unserem letzten Besuch in China die erste Woche in Yunnan verbracht, wo viele alte, urtümliche Volksgruppen leben. Das Jahr davor hat die Gruppe die Chinesische Mauer besucht. Es geht auch dabei viel um kulturellen Austausch, um Weltkulturerbe. Die Chinesen wollen uns so viel wie möglich zeigen. Das war für die Kinder manchmal sehr viel gewesen, ja auch für uns Erwachsene… Die Kinder haben traditionelle Instrumente kennengelernt, und auch das Essen: das war so scharf, dass sie merkten, dass sie das gar nicht essen können – im Gegensatz zu ihren Gastgeber-Kindern. Das war eine total spannende Erfahrung.
Den chinesischen Alltag zu erleben ist für die Kinder sehr spannend. Zum Beispiel, dass bis spät abends noch Hausaufgaben gemacht werden. Unsere Kinder waren am nächsten Tag total müde und groggy. Bei uns gibt es in den unteren Stufen keine Hausaufgaben, die Schüler*innen üben in der Schule selbständig. Für die chinesischen Kinder ist das natürlich auch ein krasser Umbruch, wenn sie bei uns zu Besuch sind. Wir haben gelernt: es gibt andere Systeme.
Mittels einer App und mit Briefchen kommunizieren die Kinder schon vor dem Austausch und entwickeln so eine extreme Bindung. Bei der Abschiedsveranstaltung wurde Rotz und Wasser geheult. Und auch jetzt stehen sie immer noch in Kontakt, Freundschaften zwischen den Ländern entstehen.
Wie funktioniert die Kommunikation?
Das ist praktisch, in Zeiten des Smartphones: man spricht chinesisch rein, und es kommt deutsch raus. Das „Stille Post Prinzip“ – am Anfang etwas schwierig, aber man gewöhnt sich daran. Die Kinder versuchen beim Englischen zu bleiben, sind oft selbst überrascht wie weit sie damit kommen. Bei uns lernen die Kinder schon ab der ersten Klasse spielerisch Englisch. Ich durfte in einer Englischstunde in China hospitieren und fand es sehr beeindruckend: das kollektive Lernen, die ganz andere Pädagogik.
Man muss natürlich auch erwähnen, wie unterschiedlich das Englisch-Niveau in den einzelnen Schülertandems war. Manchen fiel es eher schwerer, anderen – insbesondere mit einem auf ihr Alter bezogenes hohes Niveau – fiel es sehr leicht in Kontakt zu treten und zu bleiben. Dabei spielen auch die Fremdsprachenkenntnisse der Eltern eine wichtige Rolle.
Die Eltern werden als Gastfamilien und bei einzelnen Programmpunkten auch miteinbezogen – wie schaffen Sie es, die Eltern mit ins Boot zu holen und vor allem: sie davon zu überzeugen, ihre Kinder so weit reisen zu lassen?
Über ein Jahrzehnt ist unser Austausch gewachsen. Wer sich heute für unsere Schule entscheidet, ist sich der Möglichkeit des China-Austauschs bewusst. Ein Jahr vor der Reise findet ein Elternabend für Interessierte statt – da kommen noch viel mehr, als am Ende teilnehmen. Wir zeigen Bilder und erläutern der Sinn des Austauschs: es ist eine Bildungsreise. Bedenken gibt es bei den Eltern meist wegen der Kosten, denn auch wenn durch die Städtepartnerschaft und den Mercator Schulpartnerschaftsfonds Deutschland – China Fördergelder fließen und die Schulpartnerschaft vom Verein Huckepack e.V. getragen wird, müssen die Eltern pauschal 1.000 Euro beisteuern. Zudem entscheiden sich manche Eltern auch aus Umweltschutzgründen wegen dem Fliegen oder auch wegen der Kontroversen im Land gegen eine Teilnahme.
Wenn möglich, sollen die Gäste auch Gastgeber sein, sodass ein direkter Austausch stattfindet: das ist mein Alltag, das ist dein Alltag. Natürlich wird dieser Alltag verzerrt, da es ja kein normaler Schulalltag ist, sondern gefüllt mit Projekten und Ausflügen. Wir schreiben ganz lange E-Mails, oft dauert es, aber am Ende findet sich für jedes Kind eine Gastfamilie. Manchmal müssen wir Befindlichkeiten aus dem Weg räumen, wenn Eltern etwa absagen, weil sie dem Gast kein eigenes Zimmer zur Verfügung stellten könnten. Da erklären wir dann, dass das nicht so schlimm ist – schließlich sollen die Gäste das Leben hier kennenlernen. Nicht zuletzt beteiligen sich die Eltern auch in der Wochengestaltung und bringen sich je nach eigenem beruflichem Background mit ein.
Das Vertrauen in die Pädagog*innen gehört zu unserer Schulkultur, dass wir auf Augenhöhe stehen und kommunizieren. Das ist auch wichtig, wenn Kinder zum Beispiel starkes Heimweh haben, da müssen wir gemeinsam mit den Eltern einen guten Weg finden.
Die Austauschbegegnung steht jeweils unter einem Projektthema. Inwiefern ist dies hilfreich für einen erfolgreichen Austausch?
Dies ist aus der Geschichte des Austauschs gewachsen. Während unserer Austauschwochen ist immer ein Element Leitthema, letztes Jahr und beim kommenden Rückbesuch ist es „Holz“. Für beide Seiten ist das aus pädagogischer Sicht hilfreich. Man schaut sich einen Aspekt an, in China waren es die Bambuswälder, die Kunst Papier zu machen und Kalligraphie. Wir arbeiten uns kontinuierlich durch die Elemente, so hat unsere Schulpartnerschaft einen roten Faden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Christine Bertschi.