Schüleraustausch ist so etwas wie Außenpolitik auf Jugendebene.
Ulrich Ballhausen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover und ehrenamtlich Vorsitzender des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e.V. (AdB). Im Interview spricht er über Zugänge zur Demokratiebildung und erklärt etwa, wie der Transfer vom sozialen Raum einer Austauschgruppe in den politischen Raum der Gesellschaft gelingen kann. Und er geht auf die Frage ein, warum auch mit „schwierigen Ländern“ internationale Begegnungen zur Demokratiebildung funktionieren können.
Wahrscheinlich gehen die meisten Lehrkräfte davon aus, mit der Organisation einer internationalen Begegnung einen Beitrag zur Demokratiebildung zu leisten. Stimmt das so, oder gehört da mehr dazu?
Wenn eine internationale Begegnung mehr sein will als eine Begegnung zwischen jungen Menschen aus unterschiedlichen Ländern – und dieses Ziel allein ist schon hoch genug zu bewerten – dann müssen die darüber hinaus gehenden Begegnungs- und Bildungsziele auch durch ein entsprechendes pädagogisches Konzept zielgerichtet verfolgt werden. Natürlich tauschen sich junge Menschen bei internationalen Begegnungen auch ganz zwangsläufig über die unterschiedlichen Lebensbedingungen aus; ganz egal, ob dies nun Bestandteil des Programmes ist oder nicht. Insofern findet auch immer ein sozial-gesellschaftlicher Lernprozess statt.
Wenn eine internationale Begegnung aber aktiv einen Beitrag zur Demokratiebildung oder zu Völkerverständigung angesichts der aktuellen Krisen zwischen einzelnen Ländern leisten will, dann muss dieser Prozess durch geeignete Themen, didaktische Konzepte und Zugänge hergestellt werden. Auch wenn es ein zentrales und wichtiges Ziel einer Begegnung ist, dass sich die Teilnehmenden über Grenzen hinweg „gut“ miteinander verstehen, findet ein demokratiebildender und politischer Bildungsprozess erst dann statt, wenn diese Aspekte offensiv in einer Begegnung behandelt werden. Genauso wie es ein Irrtum ist, dass touristische Aufenthalte „automatisch“ die Einstellungen zum bereisten Land positiv verändern, so ist es ein Irrtum anzunehmen, dass Demokratiebildung oder Verständigung zwischen den Nationen durch eine internationale Begegnung automatisch gefördert werden.
Diese „spill-over-Effekte“ gibt es nach meiner Erfahrung so nicht. Es ist wichtig zu erkennen, dass soziale Lernprozesse erst dann zu demokratischen oder politischen Lernprozessen werden, wenn die demokratischen und politischen Dimensionen des Zusammenlebens von Menschen in den Blick genommen werden.
Zu welchem Zugang würden Sie Lehrkräften raten, die sich zum ersten Mal intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen und vielleicht einen Austausch zur Demokratiebildung anstreben?
Erstmal sollten Akteure reflektieren, was sie unter Demokratiebildungsprozessen verstehen und welche Kompetenzen sie vermitteln wollen. Denn gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht! Wenn wir politikwissenschaftlich über „Demokratie“ reden, dann sollte allen im Ansatz klar sein, dass wir damit drei unterschiedliche Aspekte meinen: wir meinen die Demokratie als Herrschafts- oder Regierungsform, wir meinen die Demokratie als Gesellschaftsform und wir meinen die Demokratie als Lebensform. Der Demokratiebildung geht es also erstens um die Verteilung von Macht, Herrschaft, Lebens- und Beteiligungsformen, es geht ihr zweitens darum, wie wir unsere Interessen in einer Gesellschaft artikulieren und organisieren und es geht ihr drittens darum, wie Menschen ihren ganz konkreten Lebensalltag miteinander gestalten. Wenn nur ausschließlich einer dieser Aspekte in Bildungs- und Begegnungsprozessen im Mittelpunkt steht, ist eine wirkliche Demokratiebildung beschnitten. Oft ist es ein jugendpädagogisch angemessener Zugang, wenn man Aspekte des sozialen Lernens in Gruppen in den Mittelpunkt internationaler Begegnungen stellt. Wenn man aber einen Beitrag zum Demokratielernen leisten möchte, dann muss ein Transfer vom sozialen Raum (Gruppe) in den politischen Raum (Gesellschaft) gelingen.
Demokratiebildung muss meiner Meinung nach nicht bei jeder internationalen Begegnung im Titel auftauchen. Es muss auch nicht immer um ein brisantes gesellschaftliches, politisches oder soziales Thema gehen. Aber wenn die internationale Jugendarbeit ihre Tradition und ihr Selbstverständnis ernst nimmt, dann muss sie sich in und bei jeder Begegnung fragen, welchen Beitrag sie zu einer „Demokratiebildung im weltbürgerlichen Sinne mit Bezug auf die Universalität der Menschenrechte“ leistet. Hierzu kann und sollte jede Begegnung einen aktiven Beitrag leisten.
Teamer und Teamerinnen einer internationalen Begegnung sollten folglich auch ein Verständnis dafür entwickeln, dass sie selbst demokratiebildende Akteure sind: dies sind sie, ob nun bewusst oder unbewusst. Damit meine ich: selbst wenn ich bestimmte Themen nicht in den Mittelpunkt einer deutsch-polnischen Begegnung stellen möchte – z. B. das Thema Migration – bin ich herausgefordert, wenn Jugendliche dies ansprechen. Denn eine aktive De-Thematisierung ist zugleich auch eine politische Positionierung.
Können Sie die Grundlagen eines gelungenen Schüler- oder Jugendaustauschs zur Demokratiebildung kurz umreißen?
Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen wie etwa Rechtspopulismus, Armut, globale Migration, Entdemokratisierung, Mediatisierung, internationale Spannungen etc. sind internationale Begegnungen immer dann für mich gelungen, wenn auch diese Themen angesprochen werden. Aber auch dort, wo sich zwei Schulklassen Gedanken darüber machen wie sie ihre Partnerschaftsstrukturen verbessern und sie diese Partnerschaft auch als ein Beitrag eines zivilgesellschaftlichen Engagements beider Schulklassen oder der Schule verstehen, findet gelungene Demokratiebildung statt. Denn die Beziehung dieser beiden Klassen untereinander kann der zivilgesellschaftliche Kitt zwischen Staaten sein, die sich auf Regierungsebene vielleicht nicht besonders verstehen.
In diesem Sinne ist die Begegnung beider Klassen so etwas wie die Außenpolitik auf Jugendebene. Aber meines Erachtens nur dann, wenn sie auch genau dies mit ihrer Arbeit und Begegnung verbinden. Sie also in diesem Sinne eine demokratisches, politisches und internationales Bewusstsein entwickelt haben.
Welche Schultypen und Altersklassen sind besonders zugänglich für die Demokratiebildung?
Demokratiebildung ist nicht erst ab einem bestimmten intellektuellen Niveau möglich, das wäre sonst ja tragisch! Jede Altersgruppe ab vier Jahren, Jugendliche in jedem Ausbildungssystem gehören zur Zielgruppe. In Schulklassen zum Beispiel kann sehr gut Demokratieerfahrung gemacht werden, etwa in der Frage, wie demokratisch Prozesse in der Entscheidungsfindung gestaltet werden.
Da Demokratiebildung – etwa genauso wie die kulturelle Bildung – aber auch eine eigene Profession ist, reicht es nicht aus, sich einfach nur für Politik als Teamer oder Teamerin zu interessieren. Eine Grundlagenschulung von 2-3 Tagen wäre sicher angemessen, um den Beitrag einer internationalen Begegnung zur Demokratiebildung zu verbessern.
Bei internationalen Begegnungen etwa mit Russland, der Türkei oder China dürfte es zu unterschiedlichen Auffassungen von Demokratiebildung kommen. Welches Vorgehen empfehlen Sie hierbei?
Man muss sensibel sein in Bezug auf die Kooperationspartner, aber gleichzeitig klar kommunizieren. Die Grund- und Menschenrechte müssen Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit sein.
Ich kenne keinen Dissens in Bezug auf die Menschenrechte mit meinen internationalen Partnern. Beide Seiten müssen sich einig sein, dass man im Interesse der jungen Menschen zusammenarbeiten will. Und wenn es kein gemeinsames Verständnis gibt, dann sollte man dies – vielleicht auch zusammen mit den Jugendlichen – entwickeln.
Dürfen oder sollen Meinungsunterschiede z. B. zwischen den Lehrkräften thematisiert werden?
Kollegen dürfen natürlich nicht bloßgestellt werden vor der Gruppe. Situative Wendigkeit ist gefragt, eine Verständigung vielleicht in der Pause, oder aber die konträre Position kann direkt anregend auf die Diskussion wirken. Dafür ist ein gutes Gespür gefragt. Klar ist, man kann Themen nicht einfach abschieben und zum Tabu erklären.
Das Interview führte Christine Bertschi.