„Schule ist ein Spiegel unserer Gesellschaft“
Der Deutsch-Russische Austausch e.V. (DRA) hat im Frühjahr ein Projekt entwickelt, das an Berliner Schulen über Hintergründe zum russischen Angriff auf die Ukraine informiert. Projektleiter Jacob Riemer erzählt uns von seinen Eindrücken von den Veranstaltungen und zieht ein erstes Fazit.
Wer steckt hinter dem Angebot „Osteuropa-Expert:innen erklären Hintergründe zum russischen Angriff auf die Ukraine an der Schule“?
Jacob Riemer: Ich habe im März als Projektleiter beim Deutsch-Russischen Austausch e.V. – bald übrigens nur noch „Austausch e. V.“ – die Sache angestoßen. Der DRA ist eine der traditionsreichen deutschen NGOs in der Zusammenarbeit mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Angefangen haben wir in der Arbeit mit Russland, später kamen weitere Länder hinzu. Heute sind wir deshalb unmittelbar vom Krieg gegen die Ukraine betroffen.
Aus dieser Betroffenheit heraus haben wir uns mit der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie zusammengetan und überlegt, was wir den Berliner Schulen im Bereich der politischen Bildung anbieten können, d.h. wie wir zur Einordnung des Geschehens und mit Blick auf das Echo, das der Krieg in der Ukraine hier auslöst, beitragen können.
Herausgekommen ist ein Angebot an Schulen – welche Qualifikation bringt Ihr Team dafür mit?
In Zusammenarbeit mit dem Verein Dekabristen e.V. haben wir Kolleg*innen aus der Berliner Osteuropa-Fachcommunity – also Menschen aus zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Organisationen, aus Museen und Kultureinrichtungen – gebeten, in die Schulen zu gehen und Schülerinnen und Schüler zum Krieg in der Ukraine zu informieren. Entstanden ist ein Expert*innenpool mit rund 20 Personen mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen, mehrheitlich mit eigenem Osteuropa-Migrationshintergrund.
Uns war wichtig, dass unsere Expert*innen nicht nur auf Fragen der Jugendlichen antworten, sondern dass sie dabei auch etwas biografisch Authentisches vermitteln und somit neben der Vermittlung von Fachwissen auch ihre Persönlichkeit einbringen. Schülerinnen und Schülern sollte es damit ermöglicht werden, sich im Spiegel der lebensnahen Schilderungen der Expert*innen mit ihrem eigenen Bedarf an Erklärung und Deutung zu verorten.
Als Team haben wir Materialien für alle Expert*innen online zur Verfügung gestellt, die aber individualisierbar waren. Somit hat das Projekt einen dezentralen und jede einzelne Veranstaltung einen persönlichen Charakter.
Wie laufen die Veranstaltungen ab?
Die Veranstaltungen dauerten meistens 90 Minuten und wurden vor Ort in der Schule durchgeführt. Teilweise in der Aula mit mehreren Schulklassen zusammen, teilweise im Klassenverband, aber auch einmal im Museum Karlshorst, dem (Anm.: Ort der dt. Kapitulation 1945) mit eine Gruppe Berliner Russischlehrkräfte.
Üblicherweise war es so, dass die Schulleitungen das Thema bestimmten, und unsere Expert*innen guckten, wie sie darauf am besten eingehen. Bei jeder Veranstaltung wurde natürlich viel Hintergrundwissen vermittelt. Aber ebenso wichtig ist uns die Kontextualisierung der Geschehnisse (soziologisch, historisch, zeitgeschichtlich).
Besonders spannend im Gespräch mit den Schüler*innen und Lehrenden waren natürlich die Fragen rund um die Deutung bzw. Bewertung der Ereignisse in der Ukraine.
Wie groß war das Interesse?
Bis zum vorläufigen Projektende im Mai haben wir 15 Veranstaltungen durchgeführt – die Zahl liegt im Mittelfeld unserer Erwartungen. Vielleicht gab es nicht mehr Anfragen, weil dafür Eigeninitiative vonseiten der Schule gefordert war. Berliner Schulen konnten sich bei uns melden und wir haben ein maßgeschneidertes Matching durchgeführt mit einer Person aus unserem Expertenpool. Erstaunt und gefreut hat uns, dass die Veranstaltungen gut verteilt auf alle Bezirke waren.
Wie würden Sie Ihren Bildungsauftrag beschreiben?
Aus dem fernen Deutschland müssen wir heute ein grauenhaftes Kriegstheater beobachten, das seinen Widerhall in unserer multiethnischen, komplexen Gesellschaft in den Schulen findet. Lange Zeit glaubten wir, dass große Kriege in Europa allein ein Gegenstand des Geschichtsunterrichtes sind und wenn, dann in anderen, weit entfernten Weltgegenden stattfinden. Das Heranrücken des Krieges vor die eigene Haustür ruft bei den Schülerinnen und Schülern vielfach Angst hervor und löst viele Fragen aus. Schüler*innen mit Fluchthintergrund – z. B. aus dem Nahen Osten, aber auch die Nachfahren der Jugoslawien-Flüchtlinge der 1990er Jahre wiederum fühlen sich an persönlich oder familiär erlittenes Leid erinnert.
Die aufkommenden Fragen zu beantworten, bedeutet nicht nur, Schulgemeinschaften zu stabilisieren oder Jugendlichen Orientierung zu geben, sondern es ist letztlich ein wichtiger Auftrag der Krisenreaktion in einer vernetzen Welt. Ferner ist es ein Beitrag, junge Menschen sensibel für die Bedürfnisse ihrer Altersgenossinnen und -genossen aus der Ukraine zu machen und damit Hilfe zu ermöglichen.
Aufgrund der Tatsache, dass auch in Berlin absehbar die Realität geflüchteter Kinder und ihrer Mütter – die Väter bleiben oft in der Ukraine – „ankommt“, war es uns wichtig, Verständnis für die Situation der geflüchteten Frauen und Kinder und für das Geschehen in der Ukraine zu schaffen,
Bekamen Sie auch Widerstand zu spüren?
Ja, bei den Veranstaltungen gab es auch Gegenwind: alternative Narrative – nicht nur von Schüler*innen, sondern auch zum Beispiel Lehrkräften. Positionen, die wir als Osteuropa-Expert*innen fragwürdig finden, die aber dennoch relevanter Teil des Diskurses an Schulen und in der Gesellschaft sind – Stichwort „Russlandversteher“. Das war für uns herausfordernd, insbesondere wenn die Positionen von unserer komplexesten Zielgruppe, von Lehrkräften kam. Lehrkräfte sind schließlich Multiplikator*innen und Autoritätspersonen, welche das Welterleben und Weltverstehen von Schüler*innen nicht unbedeutend prägen können.
Speziell an Gymnasien erlebten wir ein teils sehr hohes Niveau der Diskussionen. Aber auch starke Emotionsäußerungen von Schüler*innen, da sind manchmal Meinungen frontal zusammengekracht und beide Seiten haben sich nicht verstanden gefühlt.
Gab es weitere Herausforderungen?
Begibt man sich in den Raum Schule, springt teilweise ein gewisser Russozentrismus ins Auge, sowohl bei der Lehrer*innen- als auch bei Schüler*innenschaft. Man könnte sagen, dass die Wahrnehmung des Krieges gegen die Ukraine über ein russisches, ein Moskauer Prisma erfolgt.
Häufig stoßen wir auf Fragen wie: Warum machen das die Russen? Wie sehen das die Russen? Was ist in Russland los? Diese Fragen sind sehr berechtigt, vernachlässigen aber oftmals die Perspektive der Opfer des Krieges und dies sind die Ukrainerinnen und Ukrainer. Vor dem Hintergrund der traditionellen Russlandfixierung in Deutschland ist es daher wichtig, in diesem Krieg ukrainische Perspektiven stärker zu vermitteln, also die Art und Weise wie Kyjiw die Region, die Welt und sein Land sieht. Die dezidiert ukrainischen Perspektiven sollten mehr Raum bekommen.
Berlin ist berühmt für sein „Multikulti“. Wie wirkt sich das auf den Umgang mit dem Thema aus?
Bei den Schülerinnen und Schülern stellen wir in der multiethnischen und diversen Stadt Berlin, sehr heterogene familiäre Hintergründe fest: Die Kinder kommen aus verschiedensten, ethnokulturellen, sprachlichen Communities und sehen das Konfliktgeschehen wiederum durch ihr jeweils individuelles Prisma.
Da sind einerseits Kinder mit ukrainischer oder auch ukrainisch-russischer Verwandtschaft, die ihre Emotionen mitbringen. Und andererseits gibt es Kinder und Jugendliche, bei denen zu Hause sehr viel russisches Staatsfernsehen geschaut wird und die Positionen vertreten, die den Rechtfertigungsnarrativen Russlands folgen. Hinzu kommen Kinder mit einem anderen Migrations- oder Fluchthintergrund, die uns fragen: Ja, das kennen wir auch – aber sind wir jetzt auch noch wichtig? Was ist mit unseren Erfahrungen? Teilweise wird auch eine Ungleichbehandlung zwischen Ukrainer*innen 2022 und anderen nicht-europäischen Gruppen von Geflüchteten und Einwanderer*innen problematisiert.
Aber auch Kinder aus Familien der Mehrheitsgesellschaft weisen ein breites Spektrum der Positionierung zum Krieg gegen die Ukraine auf. Sie können sehr im Sinne der ukrainischen Sache engagiert und politisiert sein aber genauso auch andere Positionen entlang der innergesellschaftlichen Debatte in Deutschland einnehmen und gewisse Dinge im gesellschaftlichen Mehrheitsdiskurs in Frage stellen.
Der Raum Schule ist – wie schon in anderen Zeiten historischer Umbrüche – sehr stark aufgeladen mit Emotionen, mit Narrativen und mit Deutungen. Es zeigt sich einmal mehr, dass Schule Spiegel und Brennglas unserer Gesellschaft ist. Dessen müssen wir uns bewusst sein und unseren Mann und unsere Frau stehen, diese Situation mitzutragen, denn der Krieg in der Ukraine hat einen ganz deutlichen Widerhall in der Schule – auch 1000 km entfernt in Berlin.
Ihr Projekt ist eine schulisch-außerschulische Zusammenarbeit. Wie hat dies funktioniert?
Die Kooperation von Schule und außerschulischen Partnern konnte unkompliziert erfolgen und wurde finanziell wie strukturell unterstützt. Dank der Offenheit der Berliner Senatsverwaltung für unseren Vorschlag konnten wir unsere Kompetenz maßgeschneidert einbringen und Angebote implementieren. Hinzu kommt die Gewährung von Refinanzierung sowie struktureller und organisatorischer Unterstützung. Das wissen wir sehr zu schätzen und ich glaube, ein solches Vorgehen ist gerade in der aktuellen Situation besonders notwendig.
Besteht Ihr Angebot auch im neuen Schuljahr?
Wir sind offen für Angebote im neuen Schuljahr, unser Netzwerk und die Bereitschaft besteht!
Aktuell entwickeln wir als Netzwerk unser Bildungsangebot fort und passen es den veränderten Rahmenbedingungen rund ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn an. Auch die Berliner Schulverwaltung hat bereits Interesse an einer Fortführung der Zusammenarbeit bekundet. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass wir auch weiterhin maßgeschneiderte Angebote für Berliner Schulen rund um den Krieg in der Ukraine anbieten werden.
Besonders sinnvoll erscheinen uns Fortbildungen im Kollegium; Lehrkräfte haben sich für uns als essentielle Zielgruppe herauskristallisiert. Eine Idee wäre zum Beispiel ein Tages-Retreat für Lehrkräfte aus Berlin, um einzelne Aspekte zu vertiefen und in Ruhe ins Gespräch zu kommen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Christine Bertschi.
Video mit dem Beitrag von Jacob Riemer bei unserem Fachgespräch Krieg in Europa - Herausforderungen für die europäische und internationale Bildungsarbeit