„Wir wollen keinen Druck aufbauen, sondern Denkanstöße geben“
Der Medienleitfaden von ENSA mit dem Titel „Vom Schulaustausch erzählen, aber wie?“ bietet Jugendlichen und Lehrkräften einen Zugang zur diskriminierungssensiblen Kommunikation bei Schulaustauschen. Ulrike Beckert ist eine der Initiator:innen, sie erklärt im Interview, was der Medienleitfaden beinhaltet und wo die Herausforderungen bei dem Thema liegen.
Können Sie als Einstieg für alle, die mit dem Medienleitfaden nicht vertraut sind, kurz umreißen, worum es bei „Vom Schulaustausch erzählen, aber wie?“ geht und wie er zustande kam?
Ulrike Beckert: „Vom Schulaustausch erzählen, aber wie?“ ist ein Leitfaden für die Medienkommunikation internationaler Schulpartnerschaften. Es geht insbesondere um diskriminierungssensible Öffentlichkeitsarbeit bei Schulaustauschen, sowohl in Sprache als auch in Bild. Ein besonderes Augenmerk legen wir dabei auf die Sozialen Medien.
ENSA ist das Entwicklungspolitische Schulaustauschprogramm von Engagement Global, mit Bildungsangeboten und Fördermitteln im Bereich Schulpartnerschaften. Da wir Schulaustausch mit dem Globalen Süden fördern, sind der Umgang mit Rassismus und Diskriminierung wichtige Themen für uns.
Und da so eine Schulpartnerschaft mit einer großen Reise für Schüler:innen und Begleitpersonen verbunden ist, ist das nicht nur spannend für die Lokalpresse, sondern auch für die Teilnehmer:innen selbst. Sie berichten über ihre Projekte sowie persönliche Erfahrungen im Partnerland und sprechen ggf. auch mit Journalist:innen. Deshalb haben wir uns ein Dokument gewünscht, auf das wir uns zum Thema Medienkommunikation beziehen können – am besten nicht erst im Nachhinein, sondern als Handreichung für die Vorbereitung der Reisen.
Bei der Recherche sind wir auf Dr. Marlies Klamt gestoßen, die sich mit dem Thema im akademischen Rahmen beschäftigte. Wir konnten sie als Autorin gewinnen und haben im Team mit ihr den Medienleitfaden entwickelt. Bis zur Finalisierung des Leitfadens war es ein etwas längerer Weg, denn das Thema ist komplex. Unser Anliegen war es, einen anschaulichen Leitfaden mit aktuellen Praxisbeispielen zu entwickeln, der Schüler:innen zielgruppengerecht anspricht. Jetzt freuen wir uns, damit Schulen unterstützen zu können. Der Medienleitfaden ist zu einem lebendigen Dokument geworden, mit vielen Links, man soll weiterklicken und sich so selbst in spannende weitere Inhalte begeben.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, welche Tücken die Öffentlichkeitsarbeit beim Schulaustausch mit dem globalen Süden mit sich bringen kann?
Ein Beispiel aus einer Lokalzeitung: Da ist ein Bild von zwei Schülerinnen beim Austausch. Die Schülerin aus Deutschland wird in der Bildunterschrift mit Namen genannt, ihre Austauschpartnerin nicht, sie dient nur als Statistin. Das fällt vielleicht erstmal gar nicht auf – wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen.
Da wir uns an Jugendliche richten, spielen im Leitfaden die Sozialen Medien eine große Rolle: In Bezug auf Instagram-Stories und TikTok-Videos geht es zum Beispiel um die Frage, was wir filmen und zeigen: Nur die Dinge, die „exotisch“ erscheinen und anders sind als zuhause – und alles, was zu „gewöhnlich“ erscheint, wird verschwiegen? Werden mit meiner Berichterstattung Klischees und Stereotype bedient? Welchen Eindruck hinterlässt das bei den Followern in Deutschland, wie fühlen sich die Austauschpartner:innen wohl mit dieser Darstellung?
Ist das Thema nur im Zusammenhang mit Ländern des Globalen Südens relevant? Oder hilft der Medienleitfaden auch zum Beispiel, wenn es um Stereotype über Polen geht, oder wenn wir einen Austausch mit einem „gleichberechtigen“ Land wie Frankreich machen?
Unser Auftrag ist es, Schulpartnerschaften mit dem Globalen Süden zu fördern und zu betreuen. An sich sind die Inhalte des Medienleitfadens aber in vielen Kontexten relevant. Es geht auch um ganz banale Dinge: Bevor ich ein Foto mache und veröffentliche, frage ich nach dem Einverständnis der abgebildeten Menschen. Oder um das Bewusstsein, dass ich mich als Botschafter:in verstehen soll für das Land, das ich bereise. Wie ich von meinen Erfahrungen berichte, beeinflusst, wie das Gastland gesehen wird – auch wenn es um einen Schulaustausch mit Schüler:innen aus Polen oder Frankreich geht. Damit tragen die Schüler*innen eine Menge Verantwortung und können gleichzeitig mit Stereotypen brechen. Unser Leitfaden kann sie dazu befähigen, sensibilisierter über Erfahrungen in anderen Ländern zu sprechen, auch wenn es „nur“ um einen Urlaub geht.
Das Thema ist sensibel und es scheint viele Fettnäpfchen zu geben. Inwiefern genügt guter Wille, oder gilt eher „gut gemeint ist nicht immer gut gemacht?“
Wir wollen nicht abschrecken! Der Medienleitfaden ist so aufgebaut, dass er einen niedrigschwelligen Einstieg bietet, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Durch die weiterführenden Links kann man tiefer in die Materie eintauchen. Wir wollen keinen Druck aufbauen, sondern Denkanstöße geben, wir erheben auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Leitfaden steht deshalb auch:
„Auch wir als ENSA sind nicht allwissend und deshalb wirst du in diesem Leitfaden auch keine Regeln finden, wie etwas immer oder nie zu machen ist. Stattdessen findest du viele Erklärungen und Informationen, die es dir ermöglichen sollen, selbst gute Entscheidungen zu treffen.“
Der Medienleitfaden soll Sicherheit geben – sowohl den Schüler:innen als auch den Lehrkräften. Ein gängiger Abwehrmechanismus ist die Aussage „Ich kann ja nur alles falsch machen“. Es kommt vor, dass sich Leute gar nicht mehr trauen, gewisse Fragen zu stellen, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Darum gibt es im Leitfaden zu vielen Begriffen grundlegende Erklärungen. Wenn man in einer globalisierten Welt leben möchte, muss man versuchen, die Zusammenhänge zu verstehen – auch wenn das nicht immer einfach ist.
Guter Wille zählt auf jeden Fall. Aber egal ob Rassismus intendiert wird oder nicht – er verletzt genauso. Der Leitfaden soll auch einen Anstoß geben, sich selbst damit kritisch zu hinterfragen. Ich habe selbst in Kenia einen Austausch gemacht nach dem Bachelor – und sehe meine Fotos von damals heute total kritisch. Ich habe mit Menschen mit Behinderung gearbeitet und diese konnten nicht entscheiden, ob sie auf meinem Social Media Profil gezeigt werden. Das würde ich heute anders machen. Ein Medienleitfaden wie dieser, hätte mir damals sicherlich geholfen, sensibler zu berichten.
Der Leitfaden richtet sich an Schüler:innen und nicht primär an Lehrkräfte – warum haben Sie sich für diese Zielgruppe entschieden?
Schüler:innen sind für uns eine sehr wichtige Zielgruppe, denn sie werden von ihrer Schulpartnerschaft in verschiedenen Formen berichten. Ob Familie, Freund:innen oder Social Media: Die Jugendlichen erreichen eine Menge Menschen, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen. Und genau hier setzen wir mit dem Leitfaden an.
Aber auch Lehrkräfte können den Leitfaden für sich nutzen und ihm wertvolle Informationen entnehmen – nicht nur für ihre pädagogische Arbeit, sondern auch auf persönlicher Ebene. Bei unseren Workshops für die von uns geförderten Schulen führen wir zudem Übungen zum Thema „diskriminierungssensibel Berichten“ durch – weiteren interessierten Lehrkräften können wir diese Inhalte gern zur Verfügung stellen.
Würden Sie empfehlen, auch den Austauschpartnern ähnliches Infomaterial an die Hand zu geben und sie zu sensibilisieren? Oder etwas salopp gesagt, dürfen sich diese als strukturell benachteiligter Part mehr erlauben?
Im Entstehungsprozess haben wir uns gefragt, wie wir die Süd-Partner:innen der Schulen einbeziehen können. Unsere Hauptzielgruppe ist jedoch die Bildungsarbeit in Deutschland. Deshalb sind die Materialien hauptsächlich für Jugendliche aus Deutschland konzipiert. Aber im Leitfaden gibt es auch weiterführende Links in englischer Sprache, zum Beispiel zum satirischen Instagram-Kanal „barbiesavior“ – weil auf diesem Account keine realen Personen abgebildet werden, ist die Szenerie nicht verletzend, aber zeigt schön auf, wie man es nicht machen soll.
Es ist aber in beide Richtungen ähnlich: man soll einen Perspektivwechsel eingehen und sich seiner Verantwortung bewusst sein, wenn man über ein anderes Land berichtet. Je differenzierter desto besser: Nicht „alles ist toll“, sondern: „Warum sind die globalen Begebenheiten, wie sie sind?“.
Wenn man aus dem Globalen Süden berichtet, ist das bestimmt auch ein Kampf gegen Erwartungshaltungen und Gewohnheiten z.B. der Follower oder Leser:innen, die bestimmte Dinge sehen und hören wollen?
Wir wissen alle, was in den Medien zieht. Gerade die Spendenwerbung – „wir wollen armen Menschen helfen“ – hat das maßgeblich mitgeprägt. Und wenn Blogger:innen auf dem afrikanischem Kontinent unterwegs sind, geht es meist ausschließlich um Safaris. Wie divers der Kontinent ist, wird meist nicht gezeigt.
Wir möchten dazu anregen, das Thema direkt aufzugreifen und zu überlegen: Was steckt dahinter? Warum kriege ich so viel Zuspruch von meiner Community, wenn ich im Waisenhaus arbeite? Es ist schwierig, damit zu brechen und das für die Community verständlich zu machen. Man darf darüber sprechen, warum es einen überrascht, dass es im Gastland nicht nur Slums sondern auch Wolkenkratzer gibt! Die Einsicht ist letztlich: Die Welt ist nicht immer so leicht erklärbar, wie ich es mir vorher vorgestellt habe.
Wie schätzen Sie den Status Quo ein? Wird momentan mehr richtig oder falsch gemacht?
Wenn ich in den direkten Austausch mit den teilnehmenden Schüler:innen und Lehrkräften gehe, fällt mir oft auf, dass die Voraussetzungen sehr unterschiedlich sind Es gibt einige Teilnehmende, die sich schon viel mit Thematiken wie Diskriminierung auseinandergesetzt haben und andere wiederum, die noch eher am Anfang stehen. Bei unserer Presseschau bemerken wir in der Lokalpresse öfter negative Ausreißer, gerade sprachlich. Das muss gar nicht unbedingt daran liegen, dass die Schule unsensibel berichtet hat, manchmal werden einem Fragen gestellt, die schon in eine gewisse Richtung führen, etwa „Wie habt ihr eurer Partnerschule geholfen?“. Dazu führen wir Workshops mit Lehrkräften durch: Wie begegnet man dem, wie kann man korrigieren und erklären, dass es nicht ums „Helfen“, sondern um eine Begegnung auf Augenhöhe geht?
Es gibt viele Aspekte, wo wir noch Potential sehen. Und jetzt haben wir eine umfassende Grundlage, die allen weiterhilft.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Christine Bertschi.